Des nächsten Tages sass Zarathustra wieder auf seinem Steine vor der Höhle, während die Thiere draussen in der Welt herumschweiften, dass sie neue Nahrung heimbrächten, -- auch neuen Honig: denn Zarathustra hatte den alten Honig bis auf das letzte Korn verthan und verschwendet. Als er aber der¬ maassen dasass, mit einem Stecken in der Hand, und den Schatten seiner Gestalt auf der Erde abzeichnete, nachdenkend, und wahrlich! nicht über sich und seinen Schatten -- da erschrak er mit Einem Male und fuhr zusammen: denn er sahe neben seinem Schatten noch einen andern Schatten. Und wie er schnell um sich blickte und aufstand, siehe, da stand der Wahrsager neben ihm, der selbe, den er einstmals an seinem Tische gespeist und getränkt hatte, der Verkündiger der grossen Müdigkeit, welcher lehrte: "Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Welt ist ohne Sinn, Wissen würgt." Aber sein Antlitz hatte sich in¬ zwischen verwandelt; und als ihm Zarathustra in die Augen blickte, wurde sein Herz abermals erschreckt: so viel schlimme Verkündigungen und aschgraue Blitze liefen über diess Gesicht.
Der Wahrsager, der es wahrgenommen, was sich in Zarathustra's Seele zutrug, wischte mit der Hand über sein Antlitz hin, wie als ob er dasselbe weg¬
Der Nothschrei.
Des nächsten Tages sass Zarathustra wieder auf seinem Steine vor der Höhle, während die Thiere draussen in der Welt herumschweiften, dass sie neue Nahrung heimbrächten, — auch neuen Honig: denn Zarathustra hatte den alten Honig bis auf das letzte Korn verthan und verschwendet. Als er aber der¬ maassen dasass, mit einem Stecken in der Hand, und den Schatten seiner Gestalt auf der Erde abzeichnete, nachdenkend, und wahrlich! nicht über sich und seinen Schatten — da erschrak er mit Einem Male und fuhr zusammen: denn er sahe neben seinem Schatten noch einen andern Schatten. Und wie er schnell um sich blickte und aufstand, siehe, da stand der Wahrsager neben ihm, der selbe, den er einstmals an seinem Tische gespeist und getränkt hatte, der Verkündiger der grossen Müdigkeit, welcher lehrte: „Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Welt ist ohne Sinn, Wissen würgt.“ Aber sein Antlitz hatte sich in¬ zwischen verwandelt; und als ihm Zarathustra in die Augen blickte, wurde sein Herz abermals erschreckt: so viel schlimme Verkündigungen und aschgraue Blitze liefen über diess Gesicht.
Der Wahrsager, der es wahrgenommen, was sich in Zarathustra's Seele zutrug, wischte mit der Hand über sein Antlitz hin, wie als ob er dasselbe weg¬
<TEI><text><body><pbfacs="#f0017"n="10"/><divn="1"><head>Der Nothschrei.<lb/></head><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Des nächsten Tages sass Zarathustra wieder auf<lb/>
seinem Steine vor der Höhle, während die Thiere<lb/>
draussen in der Welt herumschweiften, dass sie neue<lb/>
Nahrung heimbrächten, — auch neuen Honig: denn<lb/>
Zarathustra hatte den alten Honig bis auf das letzte<lb/>
Korn verthan und verschwendet. Als er aber der¬<lb/>
maassen dasass, mit einem Stecken in der Hand, und<lb/>
den Schatten seiner Gestalt auf der Erde abzeichnete,<lb/>
nachdenkend, und wahrlich! nicht über sich und seinen<lb/>
Schatten — da erschrak er mit Einem Male und fuhr<lb/>
zusammen: denn er sahe neben seinem Schatten noch<lb/>
einen andern Schatten. Und wie er schnell um sich<lb/>
blickte und aufstand, siehe, da stand der Wahrsager<lb/>
neben ihm, der selbe, den er einstmals an seinem<lb/>
Tische gespeist und getränkt hatte, der Verkündiger<lb/>
der grossen Müdigkeit, welcher lehrte: „Alles ist<lb/>
gleich, es lohnt sich Nichts, Welt ist ohne Sinn,<lb/>
Wissen würgt.“ Aber sein Antlitz hatte sich in¬<lb/>
zwischen verwandelt; und als ihm Zarathustra in die<lb/>
Augen blickte, wurde sein Herz abermals erschreckt:<lb/>
so viel schlimme Verkündigungen und aschgraue<lb/>
Blitze liefen über diess Gesicht.</p><lb/><p>Der Wahrsager, der es wahrgenommen, was sich<lb/>
in Zarathustra's Seele zutrug, wischte mit der Hand<lb/>
über sein Antlitz hin, wie als ob er dasselbe weg¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[10/0017]
Der Nothschrei.
Des nächsten Tages sass Zarathustra wieder auf
seinem Steine vor der Höhle, während die Thiere
draussen in der Welt herumschweiften, dass sie neue
Nahrung heimbrächten, — auch neuen Honig: denn
Zarathustra hatte den alten Honig bis auf das letzte
Korn verthan und verschwendet. Als er aber der¬
maassen dasass, mit einem Stecken in der Hand, und
den Schatten seiner Gestalt auf der Erde abzeichnete,
nachdenkend, und wahrlich! nicht über sich und seinen
Schatten — da erschrak er mit Einem Male und fuhr
zusammen: denn er sahe neben seinem Schatten noch
einen andern Schatten. Und wie er schnell um sich
blickte und aufstand, siehe, da stand der Wahrsager
neben ihm, der selbe, den er einstmals an seinem
Tische gespeist und getränkt hatte, der Verkündiger
der grossen Müdigkeit, welcher lehrte: „Alles ist
gleich, es lohnt sich Nichts, Welt ist ohne Sinn,
Wissen würgt.“ Aber sein Antlitz hatte sich in¬
zwischen verwandelt; und als ihm Zarathustra in die
Augen blickte, wurde sein Herz abermals erschreckt:
so viel schlimme Verkündigungen und aschgraue
Blitze liefen über diess Gesicht.
Der Wahrsager, der es wahrgenommen, was sich
in Zarathustra's Seele zutrug, wischte mit der Hand
über sein Antlitz hin, wie als ob er dasselbe weg¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 4. Leipzig, 1891, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra04_1891/17>, abgerufen am 27.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.