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Allgemeine Zeitung, Nr. 40, 3. Oktober 1914.

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3. Oktober 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]
Die deutsche Weltpolitik und der Krieg.

Wenn der Krieg nach einem berühmten Worte des großen
preußischen Militärschriftstellers Clausewitz nichts anderes ist als ein
gewaltsames Mittel der Politik, dann wird man auch bei diesem
furchtbaren Ringen, in dem Deutschland und das verbündete Oester-
reich begriffen sind, die Frage aussprechen müssen: um welche poli-
tischen Ziele wird heute gekämpft? Was muß der Preis des
Riesenkampfes sein, in den beide Mächte gegen ihren Willen und
trotz ihrer so oft bewährten Friedensliebe verwickelt sind?

Bei unseren Gegnern liegen die politischen Ziele klar auf der
Hand: Rußland kämpft um das alte Sehnsuchtsziel des Moskoviter-
reiches, den Zugang zum Mittelländischen Meer, der nach der
neuesten russischen Lehre über Berlin nach Wien, und von da nach
Konstantinopel führt. England kämpft um die Beherrschung des
Weltmeeres und des Welthandels, die seiner ebenso klugen wie ge-
wissenlosen Politik seit hundert Jahren als Frucht der napoleoni-
schen Kriege unbestritten in den Schoß gefallen war. Frankreichs
Sehnsucht aber ist die Wiedererlangung der europäischen Hege-
monie, die Wiederaufnahme jener Politik, für die einst Lud-
wig XIV. den Weg gewiesen hatte, und die nach Machterweite-
rung gegen Osten hin auf Kosten Deutschlands strebt. Es ist der
alte französische Ruf nach der Rheingrenze, der so oft schon deutsch-
französische Kriege entzündet hat und der auch diesmal unsere unbe-
lehrbaren Nachbarn in ein Abenteuer gestürzt hat, das ihnen wahr-
scheinlich teurer wie je zuvor zu stehen kommen wird.

Aber um welche Ziele kämpfen Deutschland und Oester-
reich?
Soll der Beiden aufgedrungene Krieg, wenn er, wie wir
zu Gott hoffen, siegreich verläuft, nur dazu führen, den von unseren
Gegnern angefochtenen bestehenden Zustand wieder herzustellen,
oder soll er dazu ausgenutzt werden, der Politik beider Länder eine
neue Richtung, eine neue Möglichkeit der Machtentwicklung zu
erkämpfen?

Zu den Eigentümlichkeiten der neueren deutschen Geschichte
gehört es, daß die Errungenschaften der preußischen und deutschen
Politik oft nicht die Frucht eines zielbewußten Strebens waren,
sondern daß sie den Erfolg eines nicht gewollten, aufgedrungenen
Krieges darstellten. So war es mit Schleswig-Holstein, so auch
mit Elsaß-Lothringen. Wären unsere Gegner weniger verblendet
gewesen, so stünden vielleicht heute noch die Dänen in Altona und
Kiel und die Franzosen in Straßburg und Metz. Einem fried-
fertigen, nicht weniger wie eroberungslustigen Volke ist damals
von seinen Feinden das Schwert in die Hand gezwungen worden.

Aber die preußische Politik hat freilich auch immer nach dem
Grundsatz gehandelt, den Shakespeares Polonius seinem Sohne
Laertes als Spruch für das Leben mitgibt:

Hüte dich,
In Händel zu geraten, bist du drin,
Führ' sie, daß sich dein Feind vor dir mag hüten!

Aus ungewollten Kriegen hat Deutschland herrliche Sieges-
beute heimgebracht und hoffnungsvolle deutsche Grenzländer dem
Vaterlande zurückgewonnen. Friedensliebe, so lange es irgend mit
Ehren möglich ist, aber volle Ausnutzung unserer Siege in einem
aufgedrungenen Kampfe, das war und das muß auch weiterhin
der Charakter der deutschen Politik sein. Ist es aber einmal, wie
auch heute wieder, zum Kriege gekommen, dann muß sein Ziel die
dauernde Schwächung unserer Feinde, die dauernde Stärkung der
eigenen Macht sein.

Der heutige Krieg fällt in eine Zeitepoche hinein, die man
charakterisieren kann als die Epoche der wirtschaftlichen Welterobe-
rung, als eine Zeit, in der das Streben nach wirtschaftlicher Expan-
sion alle Völker beherrscht. Mit fieberhaftem Eifer streben die
großen Mächte seit dreißig Jahren nach Erwerb und Entwicklung
kolonialen Besitzes, und der Drang, die Güter der Erde in allen
Zonen sich anzueignen, scheint alle anderen politischen Bestrebungen
in den Hintergrund zu drängen.

Auch Deutschland hat bei diesem großen Zuge der Zeit nicht
zurückbleiben wollen. Die reichen geistigen Kräfte unseres Volkes
haben sich endlich wieder auf das so lange vernachlässigte Gebiet
jenes Ringens und Kämpfens um wirtschaftliche Güter geworfen,
die doch immer die unentbehrliche Grundlage dauernder politischer
Macht sein werden. Ja, man ist soweit gegangen, dies Streben
nach wirtschaftlichem Wohlstande, nach der tatkräftigsten Entwick-
lung unserer deutschen Industrie und unseres überseeischen Handels
heute als das alleinige große Ziel Deutschlands hinzustellen und
[Spaltenumbruch] uns auf England als das Vorbild hinzuweisen, dem wir nacheifern
müßten. Man hat die Losung ausgesprochen: "Unsere Zu-
kunftliegtauf dem Wasser
"; man hat damit das politische
Programm verkündet, daß der Welthandel von nun an das große
Ideal des deutschen Volkes sein müsse.

So unzweifelhaft es ist, daß wir Deutschen auch auf den Ge-
bieten des industriellen und handelspolitischen Lebens endlich wie-
der unsere Kräfte üben sollen, so muß ich doch gestehen, daß jene
Losung, daß die deutsche Zukunft im Wesentlichen auf dem Wasser
läge, mir immer starke Bedenken gemacht hat. Aus dem großen
Gange der deutschen Geschichte scheint mir vielmehr zu folgen, daß
der Schwerpunkt der deutschen Interessen noch auf lange Zeit
hinaus in Europa liegen muß. Wir sind kein England, wir
sind kein insularer Staat. Wir werden aufs Stärkste beeinflußt
durch die Entwicklung, welche die anderen Völker Europas sich
geben. Wir stehen im Gedränge der romanischen und slavischen
Völker. Unsere Lage im Herzen Europas zwingt uns, die aller-
stärksten Kräfte zur Verteidigung des heimischen Bodens zu ent-
wickeln. Dazu scheint die geistige und seelische Anlage des Deutschen,
seine starke Neigung zur Innerlichkeit, zu religiösen und philosophi-
schem Tiefsinn darauf hinzudeuten, daß wir noch viele religiöse, sitt-
liche und soziale Probleme zu lösen haben. Gerade die innere,
seelische Verrohung, die wir heute bei unseren Gegnern mit Ent-
setzen wahrnehmen, deutet doch darauf, daß Deutschland noch den
Beruf vor allem zu erfüllen hat, Europa mit deutschem Geiste zu
durchdringen, die deutsche Tiefe der Weltanschauung, den Ernst
deutschen Denkens, deutscher Frömmigkeit, deutscher Sitte den an-
deren Nationen zu vermitteln. Ohne Deutschland würde die Welt
der Verwilderung und Verrohung verfallen; das predigen die Er-
fahrungen dieses Krieges mit feurigen Zungen.

Aber die Losung: "Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser",
würde, ganz abgesehen von solchen Bedenken geistig-sittlicher Art,
unser Vaterland auch vor ein überanstrengtes, unmögliches Ziel
stellen, weil die russische und französische Feindschaft uns gar nicht
gestattet haben würde, die ganze Kraft auf ein außereuropäisches
Ziel zu werfen, das uns, wie die Erfahrung gezeigt hat, außer der
Feindschaft jener Mächte auch noch den unversöhnlichen Haß Eng-
lands zuziehen mußte. Es ist mir nie ein Zweifel gewesen, daß
die Losung: "Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser", zur unerläß-
lichen Voraussetzung die Vernichtung Frankreichs als Großmacht
zuvor hätte haben müssen. Stellt man dem deutschen Volke Kolo-
nialpolitik und Seehandel als das wichtigste und Alles beherrschende
Ziel seiner Zukunft hin, dann muß man zuvor in Europa eine
Situation schaffen, welche Deutschland wenigstens nach einer Seite
hin auf dem europäischen Festlande Ellbogenfreiheit verschafft.

Die deutsche Politik hat sich bisher seit Bismarcks Rücktritt
zwischen diesen Unmöglichkeiten wohlmeinend und friedliebend hin-
beholfen, ohne sich das scharfe Entweder-Oder ganz klar zu
machen. Man hat geglaubt, durch friedliche diplomatische Kunst ein
Problem lösen zu können, das auf die Dauer doch nur durch Kampf
entschieden werden kann. England würde niemals eine maritime
Entwicklung dauernd geduldet haben, wie wir sie anstreben. Frank-
reichs ganze dreihundertjährige Geschichte seit dem dreißigjährigen
Krieg aber müßte uns belehren, daß es auf den Drang nach dem
Rheine immer nur gezwungen verzichten würde. Und Rußland
wird ebensowenig von dem Streben nach Besitz des Bosporus und
der Dardanellen ablassen. Solche tötlichen Widersprüche lassen sich
immer nur eine gewisse Zeit lang diplomatisch übertünchen und ver-
kleistern. Sie bleiben zuletzt doch immer Machtfragen, die durch
das Schwert entschieden werden müssen.

Was vorauszusehen war, ist in diesem Jahre eingetroffen, --
zu unserem Glücke früher als es eigentlich unseren Feinden lieb
war. Gelingt es, Frankreich dauernd zu schwächen, dann ist ein
Haupthindernis für die deutsche Weltpolitik beseitigt. Während bis-
her die allerstärksten Kräfte Deutschlands durch die Notwendigkeit
der Verteidigung gegen Frankreich dauernd gebunden waren, wür-
den diese Kräfte für die Weltpolitik frei werden, wenn es uns in
diesem Kriege gelingen sollte, Frankreich dauernd so zu schwächen,
daß es als ebenbürtiger Gegner nicht mehr in Betracht käme. Erst
dann kann Deutschland den Wettkampf mit England auf allen
Meeren unter dem Einsatz seiner ganzen Kraft aufnehmen.

Alle politischen Fragen sind in letzter Hinsicht Machtfragen.
Und darum ist, ehe die Macht im Kriege entschieden hat, heute auch
noch nicht zu sagen, ob es möglich sein wird, Englands Seeherr-
schaft zu erschüttern, ob es gelingen wird, Rußlands Einfluß im

3. Oktober 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]
Die deutſche Weltpolitik und der Krieg.

Wenn der Krieg nach einem berühmten Worte des großen
preußiſchen Militärſchriftſtellers Clauſewitz nichts anderes iſt als ein
gewaltſames Mittel der Politik, dann wird man auch bei dieſem
furchtbaren Ringen, in dem Deutſchland und das verbündete Oeſter-
reich begriffen ſind, die Frage ausſprechen müſſen: um welche poli-
tiſchen Ziele wird heute gekämpft? Was muß der Preis des
Rieſenkampfes ſein, in den beide Mächte gegen ihren Willen und
trotz ihrer ſo oft bewährten Friedensliebe verwickelt ſind?

Bei unſeren Gegnern liegen die politiſchen Ziele klar auf der
Hand: Rußland kämpft um das alte Sehnſuchtsziel des Moskoviter-
reiches, den Zugang zum Mittelländiſchen Meer, der nach der
neueſten ruſſiſchen Lehre über Berlin nach Wien, und von da nach
Konſtantinopel führt. England kämpft um die Beherrſchung des
Weltmeeres und des Welthandels, die ſeiner ebenſo klugen wie ge-
wiſſenloſen Politik ſeit hundert Jahren als Frucht der napoleoni-
ſchen Kriege unbeſtritten in den Schoß gefallen war. Frankreichs
Sehnſucht aber iſt die Wiedererlangung der europäiſchen Hege-
monie, die Wiederaufnahme jener Politik, für die einſt Lud-
wig XIV. den Weg gewieſen hatte, und die nach Machterweite-
rung gegen Oſten hin auf Koſten Deutſchlands ſtrebt. Es iſt der
alte franzöſiſche Ruf nach der Rheingrenze, der ſo oft ſchon deutſch-
franzöſiſche Kriege entzündet hat und der auch diesmal unſere unbe-
lehrbaren Nachbarn in ein Abenteuer geſtürzt hat, das ihnen wahr-
ſcheinlich teurer wie je zuvor zu ſtehen kommen wird.

Aber um welche Ziele kämpfen Deutſchland und Oeſter-
reich?
Soll der Beiden aufgedrungene Krieg, wenn er, wie wir
zu Gott hoffen, ſiegreich verläuft, nur dazu führen, den von unſeren
Gegnern angefochtenen beſtehenden Zuſtand wieder herzuſtellen,
oder ſoll er dazu ausgenutzt werden, der Politik beider Länder eine
neue Richtung, eine neue Möglichkeit der Machtentwicklung zu
erkämpfen?

Zu den Eigentümlichkeiten der neueren deutſchen Geſchichte
gehört es, daß die Errungenſchaften der preußiſchen und deutſchen
Politik oft nicht die Frucht eines zielbewußten Strebens waren,
ſondern daß ſie den Erfolg eines nicht gewollten, aufgedrungenen
Krieges darſtellten. So war es mit Schleswig-Holſtein, ſo auch
mit Elſaß-Lothringen. Wären unſere Gegner weniger verblendet
geweſen, ſo ſtünden vielleicht heute noch die Dänen in Altona und
Kiel und die Franzoſen in Straßburg und Metz. Einem fried-
fertigen, nicht weniger wie eroberungsluſtigen Volke iſt damals
von ſeinen Feinden das Schwert in die Hand gezwungen worden.

Aber die preußiſche Politik hat freilich auch immer nach dem
Grundſatz gehandelt, den Shakeſpeares Polonius ſeinem Sohne
Laertes als Spruch für das Leben mitgibt:

Hüte dich,
In Händel zu geraten, biſt du drin,
Führ’ ſie, daß ſich dein Feind vor dir mag hüten!

Aus ungewollten Kriegen hat Deutſchland herrliche Sieges-
beute heimgebracht und hoffnungsvolle deutſche Grenzländer dem
Vaterlande zurückgewonnen. Friedensliebe, ſo lange es irgend mit
Ehren möglich iſt, aber volle Ausnutzung unſerer Siege in einem
aufgedrungenen Kampfe, das war und das muß auch weiterhin
der Charakter der deutſchen Politik ſein. Iſt es aber einmal, wie
auch heute wieder, zum Kriege gekommen, dann muß ſein Ziel die
dauernde Schwächung unſerer Feinde, die dauernde Stärkung der
eigenen Macht ſein.

Der heutige Krieg fällt in eine Zeitepoche hinein, die man
charakteriſieren kann als die Epoche der wirtſchaftlichen Welterobe-
rung, als eine Zeit, in der das Streben nach wirtſchaftlicher Expan-
ſion alle Völker beherrſcht. Mit fieberhaftem Eifer ſtreben die
großen Mächte ſeit dreißig Jahren nach Erwerb und Entwicklung
kolonialen Beſitzes, und der Drang, die Güter der Erde in allen
Zonen ſich anzueignen, ſcheint alle anderen politiſchen Beſtrebungen
in den Hintergrund zu drängen.

Auch Deutſchland hat bei dieſem großen Zuge der Zeit nicht
zurückbleiben wollen. Die reichen geiſtigen Kräfte unſeres Volkes
haben ſich endlich wieder auf das ſo lange vernachläſſigte Gebiet
jenes Ringens und Kämpfens um wirtſchaftliche Güter geworfen,
die doch immer die unentbehrliche Grundlage dauernder politiſcher
Macht ſein werden. Ja, man iſt ſoweit gegangen, dies Streben
nach wirtſchaftlichem Wohlſtande, nach der tatkräftigſten Entwick-
lung unſerer deutſchen Induſtrie und unſeres überſeeiſchen Handels
heute als das alleinige große Ziel Deutſchlands hinzuſtellen und
[Spaltenumbruch] uns auf England als das Vorbild hinzuweiſen, dem wir nacheifern
müßten. Man hat die Loſung ausgeſprochen: „Unſere Zu-
kunftliegtauf dem Waſſer
“; man hat damit das politiſche
Programm verkündet, daß der Welthandel von nun an das große
Ideal des deutſchen Volkes ſein müſſe.

So unzweifelhaft es iſt, daß wir Deutſchen auch auf den Ge-
bieten des induſtriellen und handelspolitiſchen Lebens endlich wie-
der unſere Kräfte üben ſollen, ſo muß ich doch geſtehen, daß jene
Loſung, daß die deutſche Zukunft im Weſentlichen auf dem Waſſer
läge, mir immer ſtarke Bedenken gemacht hat. Aus dem großen
Gange der deutſchen Geſchichte ſcheint mir vielmehr zu folgen, daß
der Schwerpunkt der deutſchen Intereſſen noch auf lange Zeit
hinaus in Europa liegen muß. Wir ſind kein England, wir
ſind kein inſularer Staat. Wir werden aufs Stärkſte beeinflußt
durch die Entwicklung, welche die anderen Völker Europas ſich
geben. Wir ſtehen im Gedränge der romaniſchen und ſlaviſchen
Völker. Unſere Lage im Herzen Europas zwingt uns, die aller-
ſtärkſten Kräfte zur Verteidigung des heimiſchen Bodens zu ent-
wickeln. Dazu ſcheint die geiſtige und ſeeliſche Anlage des Deutſchen,
ſeine ſtarke Neigung zur Innerlichkeit, zu religiöſen und philoſophi-
ſchem Tiefſinn darauf hinzudeuten, daß wir noch viele religiöſe, ſitt-
liche und ſoziale Probleme zu löſen haben. Gerade die innere,
ſeeliſche Verrohung, die wir heute bei unſeren Gegnern mit Ent-
ſetzen wahrnehmen, deutet doch darauf, daß Deutſchland noch den
Beruf vor allem zu erfüllen hat, Europa mit deutſchem Geiſte zu
durchdringen, die deutſche Tiefe der Weltanſchauung, den Ernſt
deutſchen Denkens, deutſcher Frömmigkeit, deutſcher Sitte den an-
deren Nationen zu vermitteln. Ohne Deutſchland würde die Welt
der Verwilderung und Verrohung verfallen; das predigen die Er-
fahrungen dieſes Krieges mit feurigen Zungen.

Aber die Loſung: „Deutſchlands Zukunft liegt auf dem Waſſer“,
würde, ganz abgeſehen von ſolchen Bedenken geiſtig-ſittlicher Art,
unſer Vaterland auch vor ein überanſtrengtes, unmögliches Ziel
ſtellen, weil die ruſſiſche und franzöſiſche Feindſchaft uns gar nicht
geſtattet haben würde, die ganze Kraft auf ein außereuropäiſches
Ziel zu werfen, das uns, wie die Erfahrung gezeigt hat, außer der
Feindſchaft jener Mächte auch noch den unverſöhnlichen Haß Eng-
lands zuziehen mußte. Es iſt mir nie ein Zweifel geweſen, daß
die Loſung: „Unſere Zukunft liegt auf dem Waſſer“, zur unerläß-
lichen Vorausſetzung die Vernichtung Frankreichs als Großmacht
zuvor hätte haben müſſen. Stellt man dem deutſchen Volke Kolo-
nialpolitik und Seehandel als das wichtigſte und Alles beherrſchende
Ziel ſeiner Zukunft hin, dann muß man zuvor in Europa eine
Situation ſchaffen, welche Deutſchland wenigſtens nach einer Seite
hin auf dem europäiſchen Feſtlande Ellbogenfreiheit verſchafft.

Die deutſche Politik hat ſich bisher ſeit Bismarcks Rücktritt
zwiſchen dieſen Unmöglichkeiten wohlmeinend und friedliebend hin-
beholfen, ohne ſich das ſcharfe Entweder-Oder ganz klar zu
machen. Man hat geglaubt, durch friedliche diplomatiſche Kunſt ein
Problem löſen zu können, das auf die Dauer doch nur durch Kampf
entſchieden werden kann. England würde niemals eine maritime
Entwicklung dauernd geduldet haben, wie wir ſie anſtreben. Frank-
reichs ganze dreihundertjährige Geſchichte ſeit dem dreißigjährigen
Krieg aber müßte uns belehren, daß es auf den Drang nach dem
Rheine immer nur gezwungen verzichten würde. Und Rußland
wird ebenſowenig von dem Streben nach Beſitz des Bosporus und
der Dardanellen ablaſſen. Solche tötlichen Widerſprüche laſſen ſich
immer nur eine gewiſſe Zeit lang diplomatiſch übertünchen und ver-
kleiſtern. Sie bleiben zuletzt doch immer Machtfragen, die durch
das Schwert entſchieden werden müſſen.

Was vorauszuſehen war, iſt in dieſem Jahre eingetroffen, —
zu unſerem Glücke früher als es eigentlich unſeren Feinden lieb
war. Gelingt es, Frankreich dauernd zu ſchwächen, dann iſt ein
Haupthindernis für die deutſche Weltpolitik beſeitigt. Während bis-
her die allerſtärkſten Kräfte Deutſchlands durch die Notwendigkeit
der Verteidigung gegen Frankreich dauernd gebunden waren, wür-
den dieſe Kräfte für die Weltpolitik frei werden, wenn es uns in
dieſem Kriege gelingen ſollte, Frankreich dauernd ſo zu ſchwächen,
daß es als ebenbürtiger Gegner nicht mehr in Betracht käme. Erſt
dann kann Deutſchland den Wettkampf mit England auf allen
Meeren unter dem Einſatz ſeiner ganzen Kraft aufnehmen.

Alle politiſchen Fragen ſind in letzter Hinſicht Machtfragen.
Und darum iſt, ehe die Macht im Kriege entſchieden hat, heute auch
noch nicht zu ſagen, ob es möglich ſein wird, Englands Seeherr-
ſchaft zu erſchüttern, ob es gelingen wird, Rußlands Einfluß im

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[591/0007] 3. Oktober 1914. Allgemeine Zeitung Die deutſche Weltpolitik und der Krieg. Wenn der Krieg nach einem berühmten Worte des großen preußiſchen Militärſchriftſtellers Clauſewitz nichts anderes iſt als ein gewaltſames Mittel der Politik, dann wird man auch bei dieſem furchtbaren Ringen, in dem Deutſchland und das verbündete Oeſter- reich begriffen ſind, die Frage ausſprechen müſſen: um welche poli- tiſchen Ziele wird heute gekämpft? Was muß der Preis des Rieſenkampfes ſein, in den beide Mächte gegen ihren Willen und trotz ihrer ſo oft bewährten Friedensliebe verwickelt ſind? Bei unſeren Gegnern liegen die politiſchen Ziele klar auf der Hand: Rußland kämpft um das alte Sehnſuchtsziel des Moskoviter- reiches, den Zugang zum Mittelländiſchen Meer, der nach der neueſten ruſſiſchen Lehre über Berlin nach Wien, und von da nach Konſtantinopel führt. England kämpft um die Beherrſchung des Weltmeeres und des Welthandels, die ſeiner ebenſo klugen wie ge- wiſſenloſen Politik ſeit hundert Jahren als Frucht der napoleoni- ſchen Kriege unbeſtritten in den Schoß gefallen war. Frankreichs Sehnſucht aber iſt die Wiedererlangung der europäiſchen Hege- monie, die Wiederaufnahme jener Politik, für die einſt Lud- wig XIV. den Weg gewieſen hatte, und die nach Machterweite- rung gegen Oſten hin auf Koſten Deutſchlands ſtrebt. Es iſt der alte franzöſiſche Ruf nach der Rheingrenze, der ſo oft ſchon deutſch- franzöſiſche Kriege entzündet hat und der auch diesmal unſere unbe- lehrbaren Nachbarn in ein Abenteuer geſtürzt hat, das ihnen wahr- ſcheinlich teurer wie je zuvor zu ſtehen kommen wird. Aber um welche Ziele kämpfen Deutſchland und Oeſter- reich? Soll der Beiden aufgedrungene Krieg, wenn er, wie wir zu Gott hoffen, ſiegreich verläuft, nur dazu führen, den von unſeren Gegnern angefochtenen beſtehenden Zuſtand wieder herzuſtellen, oder ſoll er dazu ausgenutzt werden, der Politik beider Länder eine neue Richtung, eine neue Möglichkeit der Machtentwicklung zu erkämpfen? Zu den Eigentümlichkeiten der neueren deutſchen Geſchichte gehört es, daß die Errungenſchaften der preußiſchen und deutſchen Politik oft nicht die Frucht eines zielbewußten Strebens waren, ſondern daß ſie den Erfolg eines nicht gewollten, aufgedrungenen Krieges darſtellten. So war es mit Schleswig-Holſtein, ſo auch mit Elſaß-Lothringen. Wären unſere Gegner weniger verblendet geweſen, ſo ſtünden vielleicht heute noch die Dänen in Altona und Kiel und die Franzoſen in Straßburg und Metz. Einem fried- fertigen, nicht weniger wie eroberungsluſtigen Volke iſt damals von ſeinen Feinden das Schwert in die Hand gezwungen worden. Aber die preußiſche Politik hat freilich auch immer nach dem Grundſatz gehandelt, den Shakeſpeares Polonius ſeinem Sohne Laertes als Spruch für das Leben mitgibt: Hüte dich, In Händel zu geraten, biſt du drin, Führ’ ſie, daß ſich dein Feind vor dir mag hüten! Aus ungewollten Kriegen hat Deutſchland herrliche Sieges- beute heimgebracht und hoffnungsvolle deutſche Grenzländer dem Vaterlande zurückgewonnen. Friedensliebe, ſo lange es irgend mit Ehren möglich iſt, aber volle Ausnutzung unſerer Siege in einem aufgedrungenen Kampfe, das war und das muß auch weiterhin der Charakter der deutſchen Politik ſein. Iſt es aber einmal, wie auch heute wieder, zum Kriege gekommen, dann muß ſein Ziel die dauernde Schwächung unſerer Feinde, die dauernde Stärkung der eigenen Macht ſein. Der heutige Krieg fällt in eine Zeitepoche hinein, die man charakteriſieren kann als die Epoche der wirtſchaftlichen Welterobe- rung, als eine Zeit, in der das Streben nach wirtſchaftlicher Expan- ſion alle Völker beherrſcht. Mit fieberhaftem Eifer ſtreben die großen Mächte ſeit dreißig Jahren nach Erwerb und Entwicklung kolonialen Beſitzes, und der Drang, die Güter der Erde in allen Zonen ſich anzueignen, ſcheint alle anderen politiſchen Beſtrebungen in den Hintergrund zu drängen. Auch Deutſchland hat bei dieſem großen Zuge der Zeit nicht zurückbleiben wollen. Die reichen geiſtigen Kräfte unſeres Volkes haben ſich endlich wieder auf das ſo lange vernachläſſigte Gebiet jenes Ringens und Kämpfens um wirtſchaftliche Güter geworfen, die doch immer die unentbehrliche Grundlage dauernder politiſcher Macht ſein werden. Ja, man iſt ſoweit gegangen, dies Streben nach wirtſchaftlichem Wohlſtande, nach der tatkräftigſten Entwick- lung unſerer deutſchen Induſtrie und unſeres überſeeiſchen Handels heute als das alleinige große Ziel Deutſchlands hinzuſtellen und uns auf England als das Vorbild hinzuweiſen, dem wir nacheifern müßten. Man hat die Loſung ausgeſprochen: „Unſere Zu- kunftliegtauf dem Waſſer“; man hat damit das politiſche Programm verkündet, daß der Welthandel von nun an das große Ideal des deutſchen Volkes ſein müſſe. So unzweifelhaft es iſt, daß wir Deutſchen auch auf den Ge- bieten des induſtriellen und handelspolitiſchen Lebens endlich wie- der unſere Kräfte üben ſollen, ſo muß ich doch geſtehen, daß jene Loſung, daß die deutſche Zukunft im Weſentlichen auf dem Waſſer läge, mir immer ſtarke Bedenken gemacht hat. Aus dem großen Gange der deutſchen Geſchichte ſcheint mir vielmehr zu folgen, daß der Schwerpunkt der deutſchen Intereſſen noch auf lange Zeit hinaus in Europa liegen muß. Wir ſind kein England, wir ſind kein inſularer Staat. Wir werden aufs Stärkſte beeinflußt durch die Entwicklung, welche die anderen Völker Europas ſich geben. Wir ſtehen im Gedränge der romaniſchen und ſlaviſchen Völker. Unſere Lage im Herzen Europas zwingt uns, die aller- ſtärkſten Kräfte zur Verteidigung des heimiſchen Bodens zu ent- wickeln. Dazu ſcheint die geiſtige und ſeeliſche Anlage des Deutſchen, ſeine ſtarke Neigung zur Innerlichkeit, zu religiöſen und philoſophi- ſchem Tiefſinn darauf hinzudeuten, daß wir noch viele religiöſe, ſitt- liche und ſoziale Probleme zu löſen haben. Gerade die innere, ſeeliſche Verrohung, die wir heute bei unſeren Gegnern mit Ent- ſetzen wahrnehmen, deutet doch darauf, daß Deutſchland noch den Beruf vor allem zu erfüllen hat, Europa mit deutſchem Geiſte zu durchdringen, die deutſche Tiefe der Weltanſchauung, den Ernſt deutſchen Denkens, deutſcher Frömmigkeit, deutſcher Sitte den an- deren Nationen zu vermitteln. Ohne Deutſchland würde die Welt der Verwilderung und Verrohung verfallen; das predigen die Er- fahrungen dieſes Krieges mit feurigen Zungen. Aber die Loſung: „Deutſchlands Zukunft liegt auf dem Waſſer“, würde, ganz abgeſehen von ſolchen Bedenken geiſtig-ſittlicher Art, unſer Vaterland auch vor ein überanſtrengtes, unmögliches Ziel ſtellen, weil die ruſſiſche und franzöſiſche Feindſchaft uns gar nicht geſtattet haben würde, die ganze Kraft auf ein außereuropäiſches Ziel zu werfen, das uns, wie die Erfahrung gezeigt hat, außer der Feindſchaft jener Mächte auch noch den unverſöhnlichen Haß Eng- lands zuziehen mußte. Es iſt mir nie ein Zweifel geweſen, daß die Loſung: „Unſere Zukunft liegt auf dem Waſſer“, zur unerläß- lichen Vorausſetzung die Vernichtung Frankreichs als Großmacht zuvor hätte haben müſſen. Stellt man dem deutſchen Volke Kolo- nialpolitik und Seehandel als das wichtigſte und Alles beherrſchende Ziel ſeiner Zukunft hin, dann muß man zuvor in Europa eine Situation ſchaffen, welche Deutſchland wenigſtens nach einer Seite hin auf dem europäiſchen Feſtlande Ellbogenfreiheit verſchafft. Die deutſche Politik hat ſich bisher ſeit Bismarcks Rücktritt zwiſchen dieſen Unmöglichkeiten wohlmeinend und friedliebend hin- beholfen, ohne ſich das ſcharfe Entweder-Oder ganz klar zu machen. Man hat geglaubt, durch friedliche diplomatiſche Kunſt ein Problem löſen zu können, das auf die Dauer doch nur durch Kampf entſchieden werden kann. England würde niemals eine maritime Entwicklung dauernd geduldet haben, wie wir ſie anſtreben. Frank- reichs ganze dreihundertjährige Geſchichte ſeit dem dreißigjährigen Krieg aber müßte uns belehren, daß es auf den Drang nach dem Rheine immer nur gezwungen verzichten würde. Und Rußland wird ebenſowenig von dem Streben nach Beſitz des Bosporus und der Dardanellen ablaſſen. Solche tötlichen Widerſprüche laſſen ſich immer nur eine gewiſſe Zeit lang diplomatiſch übertünchen und ver- kleiſtern. Sie bleiben zuletzt doch immer Machtfragen, die durch das Schwert entſchieden werden müſſen. Was vorauszuſehen war, iſt in dieſem Jahre eingetroffen, — zu unſerem Glücke früher als es eigentlich unſeren Feinden lieb war. Gelingt es, Frankreich dauernd zu ſchwächen, dann iſt ein Haupthindernis für die deutſche Weltpolitik beſeitigt. Während bis- her die allerſtärkſten Kräfte Deutſchlands durch die Notwendigkeit der Verteidigung gegen Frankreich dauernd gebunden waren, wür- den dieſe Kräfte für die Weltpolitik frei werden, wenn es uns in dieſem Kriege gelingen ſollte, Frankreich dauernd ſo zu ſchwächen, daß es als ebenbürtiger Gegner nicht mehr in Betracht käme. Erſt dann kann Deutſchland den Wettkampf mit England auf allen Meeren unter dem Einſatz ſeiner ganzen Kraft aufnehmen. Alle politiſchen Fragen ſind in letzter Hinſicht Machtfragen. Und darum iſt, ehe die Macht im Kriege entſchieden hat, heute auch noch nicht zu ſagen, ob es möglich ſein wird, Englands Seeherr- ſchaft zu erſchüttern, ob es gelingen wird, Rußlands Einfluß im

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 40, 3. Oktober 1914, S. 591. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine40_1914/7>, abgerufen am 19.05.2024.