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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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Ed. Bernstein: Erpresser und ihre Gönner.
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Erpresser und ihre Gönner.
Von Ed. Bernstein, M. d. R.

Jn einer seiner letzten Sitzungen vor den Ferien hat der Deutsche
Reichstag neben anderen Petitionen auch die von 5000 Aerzten, Juristen,
Künstlern, Politikern und andern im öffentlichen Leben stehenden Persönlich-
keiten unterzeichnete Petition des wissenschaftlich=humanitären Komitees auf
Beseitigung oder Abänderung des § 175 des deutschen Strafgesetzbuches ab-
getan. Die Petition kam zu einer unglücklichen Stunde zur Verhandlung, im
letzten Moment vor einer dreitägigen Pause nach einer Reihe überlanger
Sitzungen. Nur ungeduldig hörten die wenigen anwesenden Reichsboten den
sachgemäßen Darlegungen des die Petition befürwortenden sozialdemokratischen
Abgeordneten Thiele an. Nach einer alle sachlichen Momente umgehenden Phi-
lippika des Zentrumsabgeordneten Thaler, einer Replik Thieles und einigen
kurzen Erklärungen der Abgeordneten von Damm, Gothein und von Vollmar
-- der erstere gegen, die andern beiden bedingt für die Petition -- ward von
der konservativ=klerikalen Mehrheit Uebergang zur Tagesordnung beschlossen,
und der Reichstag stieb auseinander.

Eine der innerlich widerspruchvollsten Bestimmungen des deutschen Reichs-
strafgesetzbuches ist damit bis auf weiteres konserviert. Wem zuliebe, kann
keinem, der die Petition und das ihr beigegebene Material studiert hat,
zweifelhaft sein. Der Paragraph 175 bedroht, neben den Geschlechtshandlungen
von Menschen an Tieren ( Sodomie ) , die "widernatürliche Unzucht zwischen
Personen männlichen Geschlechts" mit Gefängnisstrafe. Auch der extremste
Rigorist wird zugeben müssen, daß die letztere Formel, welcher legitimen
Tendenz immer sie auch dienen soll, einen Kautschuckbegriff und zugleich eine
Ausnahmebestimmung enthält. Was ist unter "widernatürlicher Unzucht" zu
verstehen, und warum soll sie nur strafbar sein, wenn sie zwischen Männern
geschieht? Legt man dem Mann aus dem Volke den Paragraph vor und
stellt ihm diese Frage, so wird er zu der Folgerung kommen, es handle sich
einfach um eine Verpönung der -- man erlaube den lateinischen Ausdruck --
paedicatio. Das ist aber tatsächlich nicht der Fall, und wenn es der Fall
wäre, so wäre der Paragraph zwar in sich logisch, aber doch ein Ausnahme-
paragraph, da die paedicatio, die nach Krafft=Ebing und anderen Psychiatern,
welche sich mit der Frage befaßt haben, bei homosexuellen Männern keineswegs
häufig ist, auch im heterosexuellen Geschlechtsverkehr möglich ist und auch

Ed. Bernstein: Erpresser und ihre Gönner.
[Abbildung]
Erpresser und ihre Gönner.
Von Ed. Bernstein, M. d. R.

Jn einer seiner letzten Sitzungen vor den Ferien hat der Deutsche
Reichstag neben anderen Petitionen auch die von 5000 Aerzten, Juristen,
Künstlern, Politikern und andern im öffentlichen Leben stehenden Persönlich-
keiten unterzeichnete Petition des wissenschaftlich=humanitären Komitees auf
Beseitigung oder Abänderung des § 175 des deutschen Strafgesetzbuches ab-
getan. Die Petition kam zu einer unglücklichen Stunde zur Verhandlung, im
letzten Moment vor einer dreitägigen Pause nach einer Reihe überlanger
Sitzungen. Nur ungeduldig hörten die wenigen anwesenden Reichsboten den
sachgemäßen Darlegungen des die Petition befürwortenden sozialdemokratischen
Abgeordneten Thiele an. Nach einer alle sachlichen Momente umgehenden Phi-
lippika des Zentrumsabgeordneten Thaler, einer Replik Thieles und einigen
kurzen Erklärungen der Abgeordneten von Damm, Gothein und von Vollmar
— der erstere gegen, die andern beiden bedingt für die Petition — ward von
der konservativ=klerikalen Mehrheit Uebergang zur Tagesordnung beschlossen,
und der Reichstag stieb auseinander.

Eine der innerlich widerspruchvollsten Bestimmungen des deutschen Reichs-
strafgesetzbuches ist damit bis auf weiteres konserviert. Wem zuliebe, kann
keinem, der die Petition und das ihr beigegebene Material studiert hat,
zweifelhaft sein. Der Paragraph 175 bedroht, neben den Geschlechtshandlungen
von Menschen an Tieren ( Sodomie ) , die „widernatürliche Unzucht zwischen
Personen männlichen Geschlechts“ mit Gefängnisstrafe. Auch der extremste
Rigorist wird zugeben müssen, daß die letztere Formel, welcher legitimen
Tendenz immer sie auch dienen soll, einen Kautschuckbegriff und zugleich eine
Ausnahmebestimmung enthält. Was ist unter „widernatürlicher Unzucht“ zu
verstehen, und warum soll sie nur strafbar sein, wenn sie zwischen Männern
geschieht? Legt man dem Mann aus dem Volke den Paragraph vor und
stellt ihm diese Frage, so wird er zu der Folgerung kommen, es handle sich
einfach um eine Verpönung der — man erlaube den lateinischen Ausdruck —
paedicatio. Das ist aber tatsächlich nicht der Fall, und wenn es der Fall
wäre, so wäre der Paragraph zwar in sich logisch, aber doch ein Ausnahme-
paragraph, da die paedicatio, die nach Krafft=Ebing und anderen Psychiatern,
welche sich mit der Frage befaßt haben, bei homosexuellen Männern keineswegs
häufig ist, auch im heterosexuellen Geschlechtsverkehr möglich ist und auch

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[597/0005] Ed. Bernstein: Erpresser und ihre Gönner. [Abbildung] Erpresser und ihre Gönner. Von Ed. Bernstein, M. d. R. Jn einer seiner letzten Sitzungen vor den Ferien hat der Deutsche Reichstag neben anderen Petitionen auch die von 5000 Aerzten, Juristen, Künstlern, Politikern und andern im öffentlichen Leben stehenden Persönlich- keiten unterzeichnete Petition des wissenschaftlich=humanitären Komitees auf Beseitigung oder Abänderung des § 175 des deutschen Strafgesetzbuches ab- getan. Die Petition kam zu einer unglücklichen Stunde zur Verhandlung, im letzten Moment vor einer dreitägigen Pause nach einer Reihe überlanger Sitzungen. Nur ungeduldig hörten die wenigen anwesenden Reichsboten den sachgemäßen Darlegungen des die Petition befürwortenden sozialdemokratischen Abgeordneten Thiele an. Nach einer alle sachlichen Momente umgehenden Phi- lippika des Zentrumsabgeordneten Thaler, einer Replik Thieles und einigen kurzen Erklärungen der Abgeordneten von Damm, Gothein und von Vollmar — der erstere gegen, die andern beiden bedingt für die Petition — ward von der konservativ=klerikalen Mehrheit Uebergang zur Tagesordnung beschlossen, und der Reichstag stieb auseinander. Eine der innerlich widerspruchvollsten Bestimmungen des deutschen Reichs- strafgesetzbuches ist damit bis auf weiteres konserviert. Wem zuliebe, kann keinem, der die Petition und das ihr beigegebene Material studiert hat, zweifelhaft sein. Der Paragraph 175 bedroht, neben den Geschlechtshandlungen von Menschen an Tieren ( Sodomie ) , die „widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts“ mit Gefängnisstrafe. Auch der extremste Rigorist wird zugeben müssen, daß die letztere Formel, welcher legitimen Tendenz immer sie auch dienen soll, einen Kautschuckbegriff und zugleich eine Ausnahmebestimmung enthält. Was ist unter „widernatürlicher Unzucht“ zu verstehen, und warum soll sie nur strafbar sein, wenn sie zwischen Männern geschieht? Legt man dem Mann aus dem Volke den Paragraph vor und stellt ihm diese Frage, so wird er zu der Folgerung kommen, es handle sich einfach um eine Verpönung der — man erlaube den lateinischen Ausdruck — paedicatio. Das ist aber tatsächlich nicht der Fall, und wenn es der Fall wäre, so wäre der Paragraph zwar in sich logisch, aber doch ein Ausnahme- paragraph, da die paedicatio, die nach Krafft=Ebing und anderen Psychiatern, welche sich mit der Frage befaßt haben, bei homosexuellen Männern keineswegs häufig ist, auch im heterosexuellen Geschlechtsverkehr möglich ist und auch

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 597. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/5>, abgerufen am 20.05.2024.