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Mainzer Journal. Nr. 95. Mainz, 25. September 1848.

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[Beginn Spaltensatz] oder sie ist mehr oder weniger repräsentativ. Eine solche Souve-
ränetät würde jeden Staatsbürger in einen Staatssklaven ver-
wandeln: sie ist endlich an sich unmöglich.

Die Einflüsse des alten Regierungssystems anlangend, so fra-
gen wir, ob damit mittelbare oder unmittelbare Einflüsse gemeint
seyn sollen? Wenn unmittelbare, weiset sie nach! Wenn mittel-
bare, dann bleibt freilich Nichts übrig, als reine Bahn, tabula
rasa
, zu machen, dann ist freilich ein weiterer "Riß" nothwendig,
ein tiefer unheilbarer Riß zwischen Vergangenheit und Gegen-
wart. Wir wollen dem alten Regierungssystem wahrhaftig nicht
das Wort reden, obschon es uns sehr langweilig wird, die wehr-
lose Leiche durch die Gossen der Schmähung schleifen zu sehen.
Aber, wer zeigt uns die Möglichkeit heute das Gestern völlig aus
dem Gedächtniß, aus dem Herzen der Menschen auszutilgen?
Wer zeigt uns die Möglichkeit die alten Fundamente, das alte
Volk, zu dem denn doch auch ein wenig seine Staatsmänner und
Behörden gehören, durch einen Zauberschlag, durch einen Lethe-
trank in ein völlig neues zu verwandeln? Die Einflüsse des alten
Regierungssystemes, wir behaupten es zuversichtlich, sie umfassen
nicht blos die Conservativen, sie bewegen und treiben, freilich in
negativer Weise, sie bewegen und treiben auch noch durch die
Macht der Gewohnheit selbst die Parlamentsstürmer zu Frank-
furt. Oder, was glaubte man anders, als es würde wie im al-
ten Regierungssystem mit schwankender Halbheit erst das Militär
herbeigerufen, dann nach unentschiedenem Kampf etwas entfernt
und seiner Mißstimmung und dem Hasse eines nutzlosen Blutver-
gießens preisgegeben werden? So war man es wenigstens ge-
wöhnt vom alten Regierungssysteme her.

Jndessen, da unser Gegner die juristische Probe der Wahlen,
da er das ordnungsgemäße Verfahren ungenügend findet, so
möchten wir doch seine Vorschläge für künftige Fälle vornehmen;
für die jetzt bestehende Nationalversammlung dürfte die Probe zu
kostspielig, überhaupt unpraktisch werden. Doch ohne alle An-
haltpunkte hat unser Praktiker uns nicht gelassen!

"Unsere ganze Revolution bis hierher, heißt es, war eine ari-
stokratische, war der Kampf aristokratischer Parteien, welche die
Lasten der Gesellschaft auf die Masse häufen und für sich nur die
Früchte und die Parade beanspruchen 1). Der Militär, Adels-
und Pfaffenaristokratie des Despotismus stand die Gelehrten=,
Advokaten= und Bourgeois=Aristokratie der Freiheit gegenüber.
Sie streiten sich um das Uebergewicht, und die armen Leute schla-
gen sich mit den Soldaten, die ebenfalls die Kinder armer Leute
sind, herum, welche Aristokratie herrschen soll." Es scheint also,
daß im Parlamente nicht vertreten seyn sollte die Religion, die
Kirche, -- das ist die Pfaffenaristokratie; nicht der Adel, -- das
ist die Erb=Aristokratie; nicht die Wissenschaft, -- das ist Gelehr-
ten=Aristokratie; nicht die Rechtskunde, -- das ist Advocaten-
Aristokratie; nicht der Grund= und Geldbesitz, nicht die Fabrik
und das Gewerbe, -- das ist Bourgeois=Aristokratie.

Was bleibt aber nach dem Allem noch übrig? Unser Freisin-
niger sagt es: die Armuth, das Proletariat und die Rohheit, die
ist die Canaille! Das sind seine selbsteigenen Worte: "die Ge-
schichte des dritten Standes geht zu Ende, es beginnt die Ge-
schichte der Canaille." Das Volk, heißt es, wird die Abgötterei
für die Geistesaristokratie fallen lassen, wie die früheren Aristo-
kratien, es wird einsehen, daß es keinen wahren Freund hat als
sich selber; daß die Akademien und Sprechsäle der Politik seiner
Verehrung nicht werth sind, daß seine ganze Freiheitsbewegung
Nichts war, als eine wissenschaftliche Liebhaberei geistreicher und
ruhmliebender Menschen, die dann und wann mit den Leibern der
armen Leute auch Experimente anstellen.

Hier möchten wir vor Allem wissen, wer das Volk sey, ob
die Priester, der Adel, die Gelehrten, die Juristen, die Staats-
männer, die wohlhabenden Bürger zum Volke gehören oder
nicht? Wenn sie dazu gehören, warum sollen sie nicht im Parla-
mente vertreten seyn? Und wenn sie nicht dazu gehören: was ist
dann das Volk anders, als die materiell und geistig besitzlose
Menge verwahrloster Menschen, die nun mit Einmal die aus-
schließliche Regierung des künstlichen, eben aus großer Ver-
wirrung, unter den schwierigsten inneren und äußeren Verhält-
nissen zu Freiheit, Recht, Einheit und Ordnung sich emporringen-
den Staatskörpers überkommen sollen? Mit der Religion wird
die Tugend, mit der Wissenschaft die Erfahrung, mit der Rechts-

[Spaltenumbruch] kunde die Gerechtigkeit, mit dem Vermögen das Jnteresse an Er-
haltung der Gesetzlichkeit dem gefährdeten Vaterlande entzogen
werden! Die aber diesen hirnlosen Plan zur Ausführung brach-
ten, wenn man sie fragte, was sie denn eigentlich wollen: so
heißt die Antwort: "Es muß anders werden!" Und wenn man
fragt: wie muß es denn werden? so heißt es: Wir wissen es
nicht, oder: es darf keine Armen mehr geben. Dazu freilich
muß man vor Allem der Reichen sich entledigen; dann kommt
es auf den Versuch an, wie diese hochfliegenden Plane sich möch-
ten verwirklichen lassen. Der Versuch setzt voraus die Zusam-
menfügung einer Staatsmaschine, für die es keinen anderen Kitt
geben kann, -- als Blut. Nun, wenn man sich beklagt, daß un-
sere Gelehrten dann und wann mit den Leibern der armen Leute
Experimente anstellen, was allerdings der Fall ist, wo durch über-
spannte Volksbeglückungssysteme die Begierlichkeit, die Leiden-
schaft, die Wuth auf die höchste Spitze getrieben wird: dann
sollte man vor Allem darauf verzichten, unhaltbare Zustände
durch ähnliche Experimente herbeizuführen.

Als ein solches Experiment müssen wir es bezeichnen, wenn
man, wie hier geschehen, das Volk gegen das Parlament fanati-
siren, wenn man die Männer der Liuken der Halbheit, die der
Rechten der Despotengelüste verdächtigen will. Wie weit die Vor-
würfe gegen gewisse Freiheitsredner im Parlamente gegründet
sind, wie weit in ihrem Benehmen -- für die rothe Republik die Be-
rechtigung lag, den äußersten Schritt eines Ausscheidens aus
dem Parlament und einer Achtserklärung gegen die Rechte zu
fordern: wir lassen es dahingestellt. Was aber gegen die Wahl
eines Radowitz und Lichnowsky gesagt worden, müssen wir näher
beleuchten. Sie sind, heißt es, keine Vertreter der Volkssouverä-
netät, keine Vertreter der Freiheit.

Wenn Lichnowsky noch lebte, wenn Radowitz der Mainzer
Zeitung Rede stünde, -- er wird immer bereit seyn, vor dem
Parlamente, der gesetzlichen Vertretung des Volkes sich zu ver-
antworten, nicht aber vor dem ersten besten Winkelblatte -- sie
würden laut erklären, daß sie die wahre Freiheit des deutschen
Volkes wollen. Dieselbe Erklärung würden ihre Wähler ab-
geben.

Wenn jeder Deutsche frei seyn soll, -- das ist der einzige
Sinn, den wir dem Worte "Freiheit des deutschen Volkes" geben
können, -- und wenn es sich keineswegs von selbst versteht, was
das Wesen, das Fleisch und Blut sammt dem lebendigen Geiste
der wahren Freiheit bilde, -- dann muß es Jedem freistehen,
unter Freiheit zu verstehen, was er nach seiner sittlichen und wis-
senschaftlichen, praktischen und theoretischen Bildung glaubt dar-
unter verstehen zu müssen. Und Niemand darf dem Andern seine
Begriffe von Freiheit gewaltsam aufdrängen, Niemand sich zum
souveränen Professor der Freiheit aufwerfen; Radowitz und sei-
nen Wählern muß es ebenso frei stehen mit allen gesetzlichen Mit-
teln ihre Begriffe von Freiheit im Leben zu verwirklichen, als dem
Herrn Vogt und seinen Committenten. Das läugnen, ist Despo-
tismus, ist Sophistik, ist Herrschsucht!

Wir haben die Herrschaft der drei Stände der Reihe nach
versucht. Das benachbarte Frankreich zeigt uns die Zustände,
welche der Versuch einer Herrschaft des vierten Standes mit sich
bringt, -- die Zustände des Militärdespotismus. Aber auch die-
ser wird immer noch erträglicher seyn, als die Herrschaft jener
Menge, die Lichnowsky's und Auerwald's feige Mörder in ihren
Reihen zählt.

Das wahre Princip der Freiheit will auch dem vierten Stande
sein Recht erhalten wissen; aber sein Recht neben den Rech-
ten der drei andern,
nicht ein Recht auf Vernichtung der
drei andern.

Die aber das Rouge et noir von Barricaden und Metzeleien
zu spielen nicht müde werden, denen möchten wir rathen, einen
andern Einsatz zu wählen als das Wohl des deutschen Volkes:
es dürfte sonst bald gelingen, ihr Treiben zu durchschauen. Dann
würde die ganze künstliche, fanatische, zügellose Wuth der ver-
führten Massen auf die Häupter der Verführer zurückfallen!



Deutschland.

Berlin 22. Sept. Aus der heutigen Sitzung der National-
versammlung theilen wir nachträglich noch das nachstehende
Programm des neuen Ministeriums mit: "Wir treten
vor diese hohe Versammlung mit der Versicherung, daß, indem
wir dem Rufe Sr. Maj. des Königs folgten und die uns ange-
botenen Stellen einnahmen, wir fest entschlossen sind, auf dem
betretenen constitutionellen Wege fortzuschreiten.
Wir wollen die dem preußischen Volke gewährten
Freiheiten kräftig wahren, und reactionäre Be-
strebungen mit aller Macht unseres Amtes zurück-
weisen.
Jnsonderheit werden wir in allen Zweigen des öffent-
[Ende Spaltensatz]

1) Jch könnte den Präsidenten der Nationalversammlung um die
persönlichen Früchte seiner Bemühungen, um die Parade, und wär' es
auch mein Todfeind, nimmermehr beneiden; die Aufrechthaltung der
Ordnung in der Nationalversammlung kostet eine Anstrengung, die jede
menschliche Kraft aufreiben muß. Sie trägt mehr Schmähungen ein,
als Anerkennung; es ist eine Stellung, der eine Popularität geopfert
werden mußte, eine Popularität, die großentheils durch den Tod eines
edlen Bruders erkauft war.
1 ) Jch könnte den Präsidenten der Nationalversammlung um die
persönlichen Früchte seiner Bemühungen, um die Parade, und wär' es
auch mein Todfeind, nimmermehr beneiden; die Aufrechthaltung der
Ordnung in der Nationalversammlung kostet eine Anstrengung, die jede
menschliche Kraft aufreiben muß. Sie trägt mehr Schmähungen ein,
als Anerkennung; es ist eine Stellung, der eine Popularität geopfert
werden mußte, eine Popularität, die großentheils durch den Tod eines
edlen Bruders erkauft war.

[Beginn Spaltensatz] oder sie ist mehr oder weniger repräsentativ. Eine solche Souve-
ränetät würde jeden Staatsbürger in einen Staatssklaven ver-
wandeln: sie ist endlich an sich unmöglich.

Die Einflüsse des alten Regierungssystems anlangend, so fra-
gen wir, ob damit mittelbare oder unmittelbare Einflüsse gemeint
seyn sollen? Wenn unmittelbare, weiset sie nach! Wenn mittel-
bare, dann bleibt freilich Nichts übrig, als reine Bahn, tabula
rasa
, zu machen, dann ist freilich ein weiterer „Riß“ nothwendig,
ein tiefer unheilbarer Riß zwischen Vergangenheit und Gegen-
wart. Wir wollen dem alten Regierungssystem wahrhaftig nicht
das Wort reden, obschon es uns sehr langweilig wird, die wehr-
lose Leiche durch die Gossen der Schmähung schleifen zu sehen.
Aber, wer zeigt uns die Möglichkeit heute das Gestern völlig aus
dem Gedächtniß, aus dem Herzen der Menschen auszutilgen?
Wer zeigt uns die Möglichkeit die alten Fundamente, das alte
Volk, zu dem denn doch auch ein wenig seine Staatsmänner und
Behörden gehören, durch einen Zauberschlag, durch einen Lethe-
trank in ein völlig neues zu verwandeln? Die Einflüsse des alten
Regierungssystemes, wir behaupten es zuversichtlich, sie umfassen
nicht blos die Conservativen, sie bewegen und treiben, freilich in
negativer Weise, sie bewegen und treiben auch noch durch die
Macht der Gewohnheit selbst die Parlamentsstürmer zu Frank-
furt. Oder, was glaubte man anders, als es würde wie im al-
ten Regierungssystem mit schwankender Halbheit erst das Militär
herbeigerufen, dann nach unentschiedenem Kampf etwas entfernt
und seiner Mißstimmung und dem Hasse eines nutzlosen Blutver-
gießens preisgegeben werden? So war man es wenigstens ge-
wöhnt vom alten Regierungssysteme her.

Jndessen, da unser Gegner die juristische Probe der Wahlen,
da er das ordnungsgemäße Verfahren ungenügend findet, so
möchten wir doch seine Vorschläge für künftige Fälle vornehmen;
für die jetzt bestehende Nationalversammlung dürfte die Probe zu
kostspielig, überhaupt unpraktisch werden. Doch ohne alle An-
haltpunkte hat unser Praktiker uns nicht gelassen!

„Unsere ganze Revolution bis hierher, heißt es, war eine ari-
stokratische, war der Kampf aristokratischer Parteien, welche die
Lasten der Gesellschaft auf die Masse häufen und für sich nur die
Früchte und die Parade beanspruchen 1). Der Militär, Adels-
und Pfaffenaristokratie des Despotismus stand die Gelehrten=,
Advokaten= und Bourgeois=Aristokratie der Freiheit gegenüber.
Sie streiten sich um das Uebergewicht, und die armen Leute schla-
gen sich mit den Soldaten, die ebenfalls die Kinder armer Leute
sind, herum, welche Aristokratie herrschen soll.“ Es scheint also,
daß im Parlamente nicht vertreten seyn sollte die Religion, die
Kirche, — das ist die Pfaffenaristokratie; nicht der Adel, — das
ist die Erb=Aristokratie; nicht die Wissenschaft, — das ist Gelehr-
ten=Aristokratie; nicht die Rechtskunde, — das ist Advocaten-
Aristokratie; nicht der Grund= und Geldbesitz, nicht die Fabrik
und das Gewerbe, — das ist Bourgeois=Aristokratie.

Was bleibt aber nach dem Allem noch übrig? Unser Freisin-
niger sagt es: die Armuth, das Proletariat und die Rohheit, die
ist die Canaille! Das sind seine selbsteigenen Worte: „die Ge-
schichte des dritten Standes geht zu Ende, es beginnt die Ge-
schichte der Canaille.“ Das Volk, heißt es, wird die Abgötterei
für die Geistesaristokratie fallen lassen, wie die früheren Aristo-
kratien, es wird einsehen, daß es keinen wahren Freund hat als
sich selber; daß die Akademien und Sprechsäle der Politik seiner
Verehrung nicht werth sind, daß seine ganze Freiheitsbewegung
Nichts war, als eine wissenschaftliche Liebhaberei geistreicher und
ruhmliebender Menschen, die dann und wann mit den Leibern der
armen Leute auch Experimente anstellen.

Hier möchten wir vor Allem wissen, wer das Volk sey, ob
die Priester, der Adel, die Gelehrten, die Juristen, die Staats-
männer, die wohlhabenden Bürger zum Volke gehören oder
nicht? Wenn sie dazu gehören, warum sollen sie nicht im Parla-
mente vertreten seyn? Und wenn sie nicht dazu gehören: was ist
dann das Volk anders, als die materiell und geistig besitzlose
Menge verwahrloster Menschen, die nun mit Einmal die aus-
schließliche Regierung des künstlichen, eben aus großer Ver-
wirrung, unter den schwierigsten inneren und äußeren Verhält-
nissen zu Freiheit, Recht, Einheit und Ordnung sich emporringen-
den Staatskörpers überkommen sollen? Mit der Religion wird
die Tugend, mit der Wissenschaft die Erfahrung, mit der Rechts-

[Spaltenumbruch] kunde die Gerechtigkeit, mit dem Vermögen das Jnteresse an Er-
haltung der Gesetzlichkeit dem gefährdeten Vaterlande entzogen
werden! Die aber diesen hirnlosen Plan zur Ausführung brach-
ten, wenn man sie fragte, was sie denn eigentlich wollen: so
heißt die Antwort: „Es muß anders werden!“ Und wenn man
fragt: wie muß es denn werden? so heißt es: Wir wissen es
nicht, oder: es darf keine Armen mehr geben. Dazu freilich
muß man vor Allem der Reichen sich entledigen; dann kommt
es auf den Versuch an, wie diese hochfliegenden Plane sich möch-
ten verwirklichen lassen. Der Versuch setzt voraus die Zusam-
menfügung einer Staatsmaschine, für die es keinen anderen Kitt
geben kann, — als Blut. Nun, wenn man sich beklagt, daß un-
sere Gelehrten dann und wann mit den Leibern der armen Leute
Experimente anstellen, was allerdings der Fall ist, wo durch über-
spannte Volksbeglückungssysteme die Begierlichkeit, die Leiden-
schaft, die Wuth auf die höchste Spitze getrieben wird: dann
sollte man vor Allem darauf verzichten, unhaltbare Zustände
durch ähnliche Experimente herbeizuführen.

Als ein solches Experiment müssen wir es bezeichnen, wenn
man, wie hier geschehen, das Volk gegen das Parlament fanati-
siren, wenn man die Männer der Liuken der Halbheit, die der
Rechten der Despotengelüste verdächtigen will. Wie weit die Vor-
würfe gegen gewisse Freiheitsredner im Parlamente gegründet
sind, wie weit in ihrem Benehmen — für die rothe Republik die Be-
rechtigung lag, den äußersten Schritt eines Ausscheidens aus
dem Parlament und einer Achtserklärung gegen die Rechte zu
fordern: wir lassen es dahingestellt. Was aber gegen die Wahl
eines Radowitz und Lichnowsky gesagt worden, müssen wir näher
beleuchten. Sie sind, heißt es, keine Vertreter der Volkssouverä-
netät, keine Vertreter der Freiheit.

Wenn Lichnowsky noch lebte, wenn Radowitz der Mainzer
Zeitung Rede stünde, — er wird immer bereit seyn, vor dem
Parlamente, der gesetzlichen Vertretung des Volkes sich zu ver-
antworten, nicht aber vor dem ersten besten Winkelblatte — sie
würden laut erklären, daß sie die wahre Freiheit des deutschen
Volkes wollen. Dieselbe Erklärung würden ihre Wähler ab-
geben.

Wenn jeder Deutsche frei seyn soll, — das ist der einzige
Sinn, den wir dem Worte „Freiheit des deutschen Volkes“ geben
können, — und wenn es sich keineswegs von selbst versteht, was
das Wesen, das Fleisch und Blut sammt dem lebendigen Geiste
der wahren Freiheit bilde, — dann muß es Jedem freistehen,
unter Freiheit zu verstehen, was er nach seiner sittlichen und wis-
senschaftlichen, praktischen und theoretischen Bildung glaubt dar-
unter verstehen zu müssen. Und Niemand darf dem Andern seine
Begriffe von Freiheit gewaltsam aufdrängen, Niemand sich zum
souveränen Professor der Freiheit aufwerfen; Radowitz und sei-
nen Wählern muß es ebenso frei stehen mit allen gesetzlichen Mit-
teln ihre Begriffe von Freiheit im Leben zu verwirklichen, als dem
Herrn Vogt und seinen Committenten. Das läugnen, ist Despo-
tismus, ist Sophistik, ist Herrschsucht!

Wir haben die Herrschaft der drei Stände der Reihe nach
versucht. Das benachbarte Frankreich zeigt uns die Zustände,
welche der Versuch einer Herrschaft des vierten Standes mit sich
bringt, — die Zustände des Militärdespotismus. Aber auch die-
ser wird immer noch erträglicher seyn, als die Herrschaft jener
Menge, die Lichnowsky's und Auerwald's feige Mörder in ihren
Reihen zählt.

Das wahre Princip der Freiheit will auch dem vierten Stande
sein Recht erhalten wissen; aber sein Recht neben den Rech-
ten der drei andern,
nicht ein Recht auf Vernichtung der
drei andern.

Die aber das Rouge et noir von Barricaden und Metzeleien
zu spielen nicht müde werden, denen möchten wir rathen, einen
andern Einsatz zu wählen als das Wohl des deutschen Volkes:
es dürfte sonst bald gelingen, ihr Treiben zu durchschauen. Dann
würde die ganze künstliche, fanatische, zügellose Wuth der ver-
führten Massen auf die Häupter der Verführer zurückfallen!



Deutschland.

Berlin 22. Sept. Aus der heutigen Sitzung der National-
versammlung theilen wir nachträglich noch das nachstehende
Programm des neuen Ministeriums mit: „Wir treten
vor diese hohe Versammlung mit der Versicherung, daß, indem
wir dem Rufe Sr. Maj. des Königs folgten und die uns ange-
botenen Stellen einnahmen, wir fest entschlossen sind, auf dem
betretenen constitutionellen Wege fortzuschreiten.
Wir wollen die dem preußischen Volke gewährten
Freiheiten kräftig wahren, und reactionäre Be-
strebungen mit aller Macht unseres Amtes zurück-
weisen.
Jnsonderheit werden wir in allen Zweigen des öffent-
[Ende Spaltensatz]

1) Jch könnte den Präsidenten der Nationalversammlung um die
persönlichen Früchte seiner Bemühungen, um die Parade, und wär' es
auch mein Todfeind, nimmermehr beneiden; die Aufrechthaltung der
Ordnung in der Nationalversammlung kostet eine Anstrengung, die jede
menschliche Kraft aufreiben muß. Sie trägt mehr Schmähungen ein,
als Anerkennung; es ist eine Stellung, der eine Popularität geopfert
werden mußte, eine Popularität, die großentheils durch den Tod eines
edlen Bruders erkauft war.
1 ) Jch könnte den Präsidenten der Nationalversammlung um die
persönlichen Früchte seiner Bemühungen, um die Parade, und wär' es
auch mein Todfeind, nimmermehr beneiden; die Aufrechthaltung der
Ordnung in der Nationalversammlung kostet eine Anstrengung, die jede
menschliche Kraft aufreiben muß. Sie trägt mehr Schmähungen ein,
als Anerkennung; es ist eine Stellung, der eine Popularität geopfert
werden mußte, eine Popularität, die großentheils durch den Tod eines
edlen Bruders erkauft war.
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[0002] oder sie ist mehr oder weniger repräsentativ. Eine solche Souve- ränetät würde jeden Staatsbürger in einen Staatssklaven ver- wandeln: sie ist endlich an sich unmöglich. Die Einflüsse des alten Regierungssystems anlangend, so fra- gen wir, ob damit mittelbare oder unmittelbare Einflüsse gemeint seyn sollen? Wenn unmittelbare, weiset sie nach! Wenn mittel- bare, dann bleibt freilich Nichts übrig, als reine Bahn, tabula rasa, zu machen, dann ist freilich ein weiterer „Riß“ nothwendig, ein tiefer unheilbarer Riß zwischen Vergangenheit und Gegen- wart. Wir wollen dem alten Regierungssystem wahrhaftig nicht das Wort reden, obschon es uns sehr langweilig wird, die wehr- lose Leiche durch die Gossen der Schmähung schleifen zu sehen. Aber, wer zeigt uns die Möglichkeit heute das Gestern völlig aus dem Gedächtniß, aus dem Herzen der Menschen auszutilgen? Wer zeigt uns die Möglichkeit die alten Fundamente, das alte Volk, zu dem denn doch auch ein wenig seine Staatsmänner und Behörden gehören, durch einen Zauberschlag, durch einen Lethe- trank in ein völlig neues zu verwandeln? Die Einflüsse des alten Regierungssystemes, wir behaupten es zuversichtlich, sie umfassen nicht blos die Conservativen, sie bewegen und treiben, freilich in negativer Weise, sie bewegen und treiben auch noch durch die Macht der Gewohnheit selbst die Parlamentsstürmer zu Frank- furt. Oder, was glaubte man anders, als es würde wie im al- ten Regierungssystem mit schwankender Halbheit erst das Militär herbeigerufen, dann nach unentschiedenem Kampf etwas entfernt und seiner Mißstimmung und dem Hasse eines nutzlosen Blutver- gießens preisgegeben werden? So war man es wenigstens ge- wöhnt vom alten Regierungssysteme her. Jndessen, da unser Gegner die juristische Probe der Wahlen, da er das ordnungsgemäße Verfahren ungenügend findet, so möchten wir doch seine Vorschläge für künftige Fälle vornehmen; für die jetzt bestehende Nationalversammlung dürfte die Probe zu kostspielig, überhaupt unpraktisch werden. Doch ohne alle An- haltpunkte hat unser Praktiker uns nicht gelassen! „Unsere ganze Revolution bis hierher, heißt es, war eine ari- stokratische, war der Kampf aristokratischer Parteien, welche die Lasten der Gesellschaft auf die Masse häufen und für sich nur die Früchte und die Parade beanspruchen 1). Der Militär, Adels- und Pfaffenaristokratie des Despotismus stand die Gelehrten=, Advokaten= und Bourgeois=Aristokratie der Freiheit gegenüber. Sie streiten sich um das Uebergewicht, und die armen Leute schla- gen sich mit den Soldaten, die ebenfalls die Kinder armer Leute sind, herum, welche Aristokratie herrschen soll.“ Es scheint also, daß im Parlamente nicht vertreten seyn sollte die Religion, die Kirche, — das ist die Pfaffenaristokratie; nicht der Adel, — das ist die Erb=Aristokratie; nicht die Wissenschaft, — das ist Gelehr- ten=Aristokratie; nicht die Rechtskunde, — das ist Advocaten- Aristokratie; nicht der Grund= und Geldbesitz, nicht die Fabrik und das Gewerbe, — das ist Bourgeois=Aristokratie. Was bleibt aber nach dem Allem noch übrig? Unser Freisin- niger sagt es: die Armuth, das Proletariat und die Rohheit, die ist die Canaille! Das sind seine selbsteigenen Worte: „die Ge- schichte des dritten Standes geht zu Ende, es beginnt die Ge- schichte der Canaille.“ Das Volk, heißt es, wird die Abgötterei für die Geistesaristokratie fallen lassen, wie die früheren Aristo- kratien, es wird einsehen, daß es keinen wahren Freund hat als sich selber; daß die Akademien und Sprechsäle der Politik seiner Verehrung nicht werth sind, daß seine ganze Freiheitsbewegung Nichts war, als eine wissenschaftliche Liebhaberei geistreicher und ruhmliebender Menschen, die dann und wann mit den Leibern der armen Leute auch Experimente anstellen. Hier möchten wir vor Allem wissen, wer das Volk sey, ob die Priester, der Adel, die Gelehrten, die Juristen, die Staats- männer, die wohlhabenden Bürger zum Volke gehören oder nicht? Wenn sie dazu gehören, warum sollen sie nicht im Parla- mente vertreten seyn? Und wenn sie nicht dazu gehören: was ist dann das Volk anders, als die materiell und geistig besitzlose Menge verwahrloster Menschen, die nun mit Einmal die aus- schließliche Regierung des künstlichen, eben aus großer Ver- wirrung, unter den schwierigsten inneren und äußeren Verhält- nissen zu Freiheit, Recht, Einheit und Ordnung sich emporringen- den Staatskörpers überkommen sollen? Mit der Religion wird die Tugend, mit der Wissenschaft die Erfahrung, mit der Rechts- kunde die Gerechtigkeit, mit dem Vermögen das Jnteresse an Er- haltung der Gesetzlichkeit dem gefährdeten Vaterlande entzogen werden! Die aber diesen hirnlosen Plan zur Ausführung brach- ten, wenn man sie fragte, was sie denn eigentlich wollen: so heißt die Antwort: „Es muß anders werden!“ Und wenn man fragt: wie muß es denn werden? so heißt es: Wir wissen es nicht, oder: es darf keine Armen mehr geben. Dazu freilich muß man vor Allem der Reichen sich entledigen; dann kommt es auf den Versuch an, wie diese hochfliegenden Plane sich möch- ten verwirklichen lassen. Der Versuch setzt voraus die Zusam- menfügung einer Staatsmaschine, für die es keinen anderen Kitt geben kann, — als Blut. Nun, wenn man sich beklagt, daß un- sere Gelehrten dann und wann mit den Leibern der armen Leute Experimente anstellen, was allerdings der Fall ist, wo durch über- spannte Volksbeglückungssysteme die Begierlichkeit, die Leiden- schaft, die Wuth auf die höchste Spitze getrieben wird: dann sollte man vor Allem darauf verzichten, unhaltbare Zustände durch ähnliche Experimente herbeizuführen. Als ein solches Experiment müssen wir es bezeichnen, wenn man, wie hier geschehen, das Volk gegen das Parlament fanati- siren, wenn man die Männer der Liuken der Halbheit, die der Rechten der Despotengelüste verdächtigen will. Wie weit die Vor- würfe gegen gewisse Freiheitsredner im Parlamente gegründet sind, wie weit in ihrem Benehmen — für die rothe Republik die Be- rechtigung lag, den äußersten Schritt eines Ausscheidens aus dem Parlament und einer Achtserklärung gegen die Rechte zu fordern: wir lassen es dahingestellt. Was aber gegen die Wahl eines Radowitz und Lichnowsky gesagt worden, müssen wir näher beleuchten. Sie sind, heißt es, keine Vertreter der Volkssouverä- netät, keine Vertreter der Freiheit. Wenn Lichnowsky noch lebte, wenn Radowitz der Mainzer Zeitung Rede stünde, — er wird immer bereit seyn, vor dem Parlamente, der gesetzlichen Vertretung des Volkes sich zu ver- antworten, nicht aber vor dem ersten besten Winkelblatte — sie würden laut erklären, daß sie die wahre Freiheit des deutschen Volkes wollen. Dieselbe Erklärung würden ihre Wähler ab- geben. Wenn jeder Deutsche frei seyn soll, — das ist der einzige Sinn, den wir dem Worte „Freiheit des deutschen Volkes“ geben können, — und wenn es sich keineswegs von selbst versteht, was das Wesen, das Fleisch und Blut sammt dem lebendigen Geiste der wahren Freiheit bilde, — dann muß es Jedem freistehen, unter Freiheit zu verstehen, was er nach seiner sittlichen und wis- senschaftlichen, praktischen und theoretischen Bildung glaubt dar- unter verstehen zu müssen. Und Niemand darf dem Andern seine Begriffe von Freiheit gewaltsam aufdrängen, Niemand sich zum souveränen Professor der Freiheit aufwerfen; Radowitz und sei- nen Wählern muß es ebenso frei stehen mit allen gesetzlichen Mit- teln ihre Begriffe von Freiheit im Leben zu verwirklichen, als dem Herrn Vogt und seinen Committenten. Das läugnen, ist Despo- tismus, ist Sophistik, ist Herrschsucht! Wir haben die Herrschaft der drei Stände der Reihe nach versucht. Das benachbarte Frankreich zeigt uns die Zustände, welche der Versuch einer Herrschaft des vierten Standes mit sich bringt, — die Zustände des Militärdespotismus. Aber auch die- ser wird immer noch erträglicher seyn, als die Herrschaft jener Menge, die Lichnowsky's und Auerwald's feige Mörder in ihren Reihen zählt. Das wahre Princip der Freiheit will auch dem vierten Stande sein Recht erhalten wissen; aber sein Recht neben den Rech- ten der drei andern, nicht ein Recht auf Vernichtung der drei andern. Die aber das Rouge et noir von Barricaden und Metzeleien zu spielen nicht müde werden, denen möchten wir rathen, einen andern Einsatz zu wählen als das Wohl des deutschen Volkes: es dürfte sonst bald gelingen, ihr Treiben zu durchschauen. Dann würde die ganze künstliche, fanatische, zügellose Wuth der ver- führten Massen auf die Häupter der Verführer zurückfallen! Deutschland. Berlin 22. Sept. Aus der heutigen Sitzung der National- versammlung theilen wir nachträglich noch das nachstehende Programm des neuen Ministeriums mit: „Wir treten vor diese hohe Versammlung mit der Versicherung, daß, indem wir dem Rufe Sr. Maj. des Königs folgten und die uns ange- botenen Stellen einnahmen, wir fest entschlossen sind, auf dem betretenen constitutionellen Wege fortzuschreiten. Wir wollen die dem preußischen Volke gewährten Freiheiten kräftig wahren, und reactionäre Be- strebungen mit aller Macht unseres Amtes zurück- weisen. Jnsonderheit werden wir in allen Zweigen des öffent- 1) Jch könnte den Präsidenten der Nationalversammlung um die persönlichen Früchte seiner Bemühungen, um die Parade, und wär' es auch mein Todfeind, nimmermehr beneiden; die Aufrechthaltung der Ordnung in der Nationalversammlung kostet eine Anstrengung, die jede menschliche Kraft aufreiben muß. Sie trägt mehr Schmähungen ein, als Anerkennung; es ist eine Stellung, der eine Popularität geopfert werden mußte, eine Popularität, die großentheils durch den Tod eines edlen Bruders erkauft war. 1 ) Jch könnte den Präsidenten der Nationalversammlung um die persönlichen Früchte seiner Bemühungen, um die Parade, und wär' es auch mein Todfeind, nimmermehr beneiden; die Aufrechthaltung der Ordnung in der Nationalversammlung kostet eine Anstrengung, die jede menschliche Kraft aufreiben muß. Sie trägt mehr Schmähungen ein, als Anerkennung; es ist eine Stellung, der eine Popularität geopfert werden mußte, eine Popularität, die großentheils durch den Tod eines edlen Bruders erkauft war.

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Zitationshilfe: Mainzer Journal. Nr. 95. Mainz, 25. September 1848, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_mainzerjournal095_1848/2>, abgerufen am 30.04.2024.