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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] tyrrhenischen Meer, und dicht daneben das Thal des
Reno, der etwa drei Miglien weiter oben entspringt.
Es mag nicht oft wieder vorkommen, daß wir uns, wie
hier, im Gebiete eines Meeres befinden, von dem uns
noch der Hauptkamm des Gebirgs wie eine riesige,
mehr als hundert Meilen lange Mauer scheidet. Der
Reno ist ein wunderbarer Fluß. Am Südabhang der
Apenninen entspringend, fließt er am nördlichen herab.
Oestlich vom Corno alle Scale nämlich, wo der
Kamm der Apenninen plötzlich von 5500 auf 3000 Fuß
Höhe herab sinkt, durchbricht derselbe eine tiefe, spalt-
artige Schlucht. Jn ihr fließt der Reno, zu beiden
Seiten von gewaltigen Felswänden eingefaßt, den nörd-
lichen Thälern zu.

Schöne Buchen, die hier bis zu der in Mittel-
italien seltenen Tiefe von nur 2500 Fuß über der
Meeresfläche hinab steigen, Weiden, Erlen und Hasel-
büsche geben dem schmalen Wiesenthal des Flüßchens
ein freundliches, an heimische Gegenden erinnerndes
Aussehen. Wo wir es verlassen und die Straße aber-
mals ansteigend dem Flecken Gavinana zuführt, treten
dichte Kastanienwälder an die Stelle des nordischen
Laubholzes. Endlich ist die letzte Höhe erklommen. Vor
uns liegt unser heutiges Reiseziel im schmalen, schlucht-
artigen Gebirgsthal, rings von mit Kastanienwald bedeck-
ten Bergen eingefaßt, weiterhin, dem Thale der westlich
fließenden Lima zu, die Flecken Mammiano und Po-
piglio. Jm Hintergrunde erheben sich prallige und selt-
sam geformte Felsgebirge, an denen die weißlichen Kalk-
steinmassen, die steilen Seiten mit Geröll bedeckend,
marmorartige Streifen bilden.

Jn dem ziemlich anständigen, forellenberühmten
Gasthof am Eingang des Städtchens fanden wir ein
Ehepaar, dessen Bekanntschaft wir in Florenz gemacht
hatten, unser harrend. Die Leute waren auf einige
Zeit nach San Marcello gegangen, um in dem hoch
gelegenen Ort die reine Gebirgsluft einzuathmen, deren
besonders die junge Frau zur Kräftigung ihrer zarten
Gesundheit bedurfte, während wir beide ihren Gatten,
einen entschiedenen Feinschmecker, in Verdacht hatten,
daß auch die berühmten Forellen bei der Wahl des
Orts nicht ohne Einfluß gewesen seyen.

Nachdem wir unsern Kaffee vor dem Cafe nobile
eingenommen hatten, in Gesellschaft fast sämmtlicher
Honoratioren des Städtchens vom Delegaten ( Kreisrath )
abwärts, die sich nach guter Landessitte durch Nichts-
thun und Nichtsverzehren auszeichneten, unternahmen
wir eine gemeinsame Entdeckungsreise durch alle Straßen,
Gäßchen und Winkel von San Marcello. Aber außer
einem Benedictinerinnenkloster mit dem gewöhnlichen
Zubehör von düstern Cypressen und himmelhohen Gar-
[Spaltenumbruch] tenmauern und einem uralten, aus riesigen Steinplatten
seltsam zusammengefügten Tabernakel war nichts Be-
sonderes aufzutreiben. Die Vegetation der umgebenden
Gärten und Wiesen erinnerte mehr an Deutschland als
an Jtalien. Denn hier, in einer Meereshöhe von
2500 Fuß, gedeiht die Olive gar nicht mehr, der Wein-
stock höchstens als Spalier, wie im nördlichen Deutsch-
land. Auch Pfirsich und Feige sind verschwunden und
haben dem Apfel und der Birne Platz gemacht, wäh-
rend ich nur bei Jnterlaken im Berner Oberlande schö-
nere und kräftigere Wallnußbäume fand als hier. Fast
der ganze Grundbesitz ist in den Händen einer adeligen
Familie, der Cini, wie das in den kleineren Städten
und Dörfern Jtaliens, zumal den von den Hauptstäd-
ten und den großen Emporien des Handels entlegeneren
überall der Fall zu seyn pflegt. Obwohl die eigentlich
feudalen Bande zwischen den Grundherren und ihren
Hintersassen längst gesetzlich gelöst sind, so findet doch
in der Regel noch ein eigenthümlich patriarchalisches
Verhältniß zwischen ihnen statt, und es ist eben so
selten, daß ein Colon seinem Patron den Gehorsam
und die äußern Beweise ehrfurchtsvoller Unterwür-
figkeit verweigert, als daß dieser jenen um irgend eines
Vortheils willen von seinem meist Generationen hin-
durch vom Vater auf den Sohn vererbten Gehöfte
vertriebe.

Die toscanischen Patricierfamilien sind von jeher
die Vertreter des Handels und der Jndustrie des Lan-
des gewesen. Wie die Medici einst durch ihr Bank-
geschäft, wie die Tempi u. a. durch Wollfärben und
Tuchfabrikation, wie die Ginori durch ihre große
Porcellanfabrik ( la Doccia ) , so haben auch die Cini
neuerdings die durch Wasser und Holzreichthum günstige
Lage ihrer Besitzung bei San Marcello benutzt, um
den geringen Ertrag derselben an Rohprodukten des
Landbaus durch die Resultate industrieller Unterneh-
mungen zu ersetzen. Zwar ist die große Tuchfabrik
oberhalb des Ortes mit dem riesigen, 76 Fuß im Durch-
messer haltenden eisernen Rade, dem größten, das je
in England gefertigt seyn soll, durch ungünstige Con-
stellationen bereits zum Stillstand gekommen; in desto
blühenderem Zustande befindet sich aber die Cartiera,
die neue Papierfabrik im obern Limathale, eine Stunde
von San Marcello entfernt, die wir am folgenden Tage
besuchten. Es ist meines Wissens bis jetzt die einzige
in Toscana, wo der Dampf regiert und unendliches
Papier nach der neuesten Methode gefertigt wird. Die
Maschinen, sämmtlich aus England, sind ausgezeichnet
gearbeitet, die Gebäude und alle dazu gehörigen An-
lagen im großartigsten Style. Die Zahl der Arbeiter
beträgt etwa dreihundert, und täglich werden gegen
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] tyrrhenischen Meer, und dicht daneben das Thal des
Reno, der etwa drei Miglien weiter oben entspringt.
Es mag nicht oft wieder vorkommen, daß wir uns, wie
hier, im Gebiete eines Meeres befinden, von dem uns
noch der Hauptkamm des Gebirgs wie eine riesige,
mehr als hundert Meilen lange Mauer scheidet. Der
Reno ist ein wunderbarer Fluß. Am Südabhang der
Apenninen entspringend, fließt er am nördlichen herab.
Oestlich vom Corno alle Scale nämlich, wo der
Kamm der Apenninen plötzlich von 5500 auf 3000 Fuß
Höhe herab sinkt, durchbricht derselbe eine tiefe, spalt-
artige Schlucht. Jn ihr fließt der Reno, zu beiden
Seiten von gewaltigen Felswänden eingefaßt, den nörd-
lichen Thälern zu.

Schöne Buchen, die hier bis zu der in Mittel-
italien seltenen Tiefe von nur 2500 Fuß über der
Meeresfläche hinab steigen, Weiden, Erlen und Hasel-
büsche geben dem schmalen Wiesenthal des Flüßchens
ein freundliches, an heimische Gegenden erinnerndes
Aussehen. Wo wir es verlassen und die Straße aber-
mals ansteigend dem Flecken Gavinana zuführt, treten
dichte Kastanienwälder an die Stelle des nordischen
Laubholzes. Endlich ist die letzte Höhe erklommen. Vor
uns liegt unser heutiges Reiseziel im schmalen, schlucht-
artigen Gebirgsthal, rings von mit Kastanienwald bedeck-
ten Bergen eingefaßt, weiterhin, dem Thale der westlich
fließenden Lima zu, die Flecken Mammiano und Po-
piglio. Jm Hintergrunde erheben sich prallige und selt-
sam geformte Felsgebirge, an denen die weißlichen Kalk-
steinmassen, die steilen Seiten mit Geröll bedeckend,
marmorartige Streifen bilden.

Jn dem ziemlich anständigen, forellenberühmten
Gasthof am Eingang des Städtchens fanden wir ein
Ehepaar, dessen Bekanntschaft wir in Florenz gemacht
hatten, unser harrend. Die Leute waren auf einige
Zeit nach San Marcello gegangen, um in dem hoch
gelegenen Ort die reine Gebirgsluft einzuathmen, deren
besonders die junge Frau zur Kräftigung ihrer zarten
Gesundheit bedurfte, während wir beide ihren Gatten,
einen entschiedenen Feinschmecker, in Verdacht hatten,
daß auch die berühmten Forellen bei der Wahl des
Orts nicht ohne Einfluß gewesen seyen.

Nachdem wir unsern Kaffee vor dem Café nobile
eingenommen hatten, in Gesellschaft fast sämmtlicher
Honoratioren des Städtchens vom Delegaten ( Kreisrath )
abwärts, die sich nach guter Landessitte durch Nichts-
thun und Nichtsverzehren auszeichneten, unternahmen
wir eine gemeinsame Entdeckungsreise durch alle Straßen,
Gäßchen und Winkel von San Marcello. Aber außer
einem Benedictinerinnenkloster mit dem gewöhnlichen
Zubehör von düstern Cypressen und himmelhohen Gar-
[Spaltenumbruch] tenmauern und einem uralten, aus riesigen Steinplatten
seltsam zusammengefügten Tabernakel war nichts Be-
sonderes aufzutreiben. Die Vegetation der umgebenden
Gärten und Wiesen erinnerte mehr an Deutschland als
an Jtalien. Denn hier, in einer Meereshöhe von
2500 Fuß, gedeiht die Olive gar nicht mehr, der Wein-
stock höchstens als Spalier, wie im nördlichen Deutsch-
land. Auch Pfirsich und Feige sind verschwunden und
haben dem Apfel und der Birne Platz gemacht, wäh-
rend ich nur bei Jnterlaken im Berner Oberlande schö-
nere und kräftigere Wallnußbäume fand als hier. Fast
der ganze Grundbesitz ist in den Händen einer adeligen
Familie, der Cini, wie das in den kleineren Städten
und Dörfern Jtaliens, zumal den von den Hauptstäd-
ten und den großen Emporien des Handels entlegeneren
überall der Fall zu seyn pflegt. Obwohl die eigentlich
feudalen Bande zwischen den Grundherren und ihren
Hintersassen längst gesetzlich gelöst sind, so findet doch
in der Regel noch ein eigenthümlich patriarchalisches
Verhältniß zwischen ihnen statt, und es ist eben so
selten, daß ein Colon seinem Patron den Gehorsam
und die äußern Beweise ehrfurchtsvoller Unterwür-
figkeit verweigert, als daß dieser jenen um irgend eines
Vortheils willen von seinem meist Generationen hin-
durch vom Vater auf den Sohn vererbten Gehöfte
vertriebe.

Die toscanischen Patricierfamilien sind von jeher
die Vertreter des Handels und der Jndustrie des Lan-
des gewesen. Wie die Medici einst durch ihr Bank-
geschäft, wie die Tempi u. a. durch Wollfärben und
Tuchfabrikation, wie die Ginori durch ihre große
Porcellanfabrik ( la Doccia ) , so haben auch die Cini
neuerdings die durch Wasser und Holzreichthum günstige
Lage ihrer Besitzung bei San Marcello benutzt, um
den geringen Ertrag derselben an Rohprodukten des
Landbaus durch die Resultate industrieller Unterneh-
mungen zu ersetzen. Zwar ist die große Tuchfabrik
oberhalb des Ortes mit dem riesigen, 76 Fuß im Durch-
messer haltenden eisernen Rade, dem größten, das je
in England gefertigt seyn soll, durch ungünstige Con-
stellationen bereits zum Stillstand gekommen; in desto
blühenderem Zustande befindet sich aber die Cartiera,
die neue Papierfabrik im obern Limathale, eine Stunde
von San Marcello entfernt, die wir am folgenden Tage
besuchten. Es ist meines Wissens bis jetzt die einzige
in Toscana, wo der Dampf regiert und unendliches
Papier nach der neuesten Methode gefertigt wird. Die
Maschinen, sämmtlich aus England, sind ausgezeichnet
gearbeitet, die Gebäude und alle dazu gehörigen An-
lagen im großartigsten Style. Die Zahl der Arbeiter
beträgt etwa dreihundert, und täglich werden gegen
[Ende Spaltensatz]

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[707/0011] 707 tyrrhenischen Meer, und dicht daneben das Thal des Reno, der etwa drei Miglien weiter oben entspringt. Es mag nicht oft wieder vorkommen, daß wir uns, wie hier, im Gebiete eines Meeres befinden, von dem uns noch der Hauptkamm des Gebirgs wie eine riesige, mehr als hundert Meilen lange Mauer scheidet. Der Reno ist ein wunderbarer Fluß. Am Südabhang der Apenninen entspringend, fließt er am nördlichen herab. Oestlich vom Corno alle Scale nämlich, wo der Kamm der Apenninen plötzlich von 5500 auf 3000 Fuß Höhe herab sinkt, durchbricht derselbe eine tiefe, spalt- artige Schlucht. Jn ihr fließt der Reno, zu beiden Seiten von gewaltigen Felswänden eingefaßt, den nörd- lichen Thälern zu. Schöne Buchen, die hier bis zu der in Mittel- italien seltenen Tiefe von nur 2500 Fuß über der Meeresfläche hinab steigen, Weiden, Erlen und Hasel- büsche geben dem schmalen Wiesenthal des Flüßchens ein freundliches, an heimische Gegenden erinnerndes Aussehen. 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Obwohl die eigentlich feudalen Bande zwischen den Grundherren und ihren Hintersassen längst gesetzlich gelöst sind, so findet doch in der Regel noch ein eigenthümlich patriarchalisches Verhältniß zwischen ihnen statt, und es ist eben so selten, daß ein Colon seinem Patron den Gehorsam und die äußern Beweise ehrfurchtsvoller Unterwür- figkeit verweigert, als daß dieser jenen um irgend eines Vortheils willen von seinem meist Generationen hin- durch vom Vater auf den Sohn vererbten Gehöfte vertriebe. Die toscanischen Patricierfamilien sind von jeher die Vertreter des Handels und der Jndustrie des Lan- des gewesen. Wie die Medici einst durch ihr Bank- geschäft, wie die Tempi u. a. durch Wollfärben und Tuchfabrikation, wie die Ginori durch ihre große Porcellanfabrik ( la Doccia ) , so haben auch die Cini neuerdings die durch Wasser und Holzreichthum günstige Lage ihrer Besitzung bei San Marcello benutzt, um den geringen Ertrag derselben an Rohprodukten des Landbaus durch die Resultate industrieller Unterneh- mungen zu ersetzen. Zwar ist die große Tuchfabrik oberhalb des Ortes mit dem riesigen, 76 Fuß im Durch- messer haltenden eisernen Rade, dem größten, das je in England gefertigt seyn soll, durch ungünstige Con- stellationen bereits zum Stillstand gekommen; in desto blühenderem Zustande befindet sich aber die Cartiera, die neue Papierfabrik im obern Limathale, eine Stunde von San Marcello entfernt, die wir am folgenden Tage besuchten. Es ist meines Wissens bis jetzt die einzige in Toscana, wo der Dampf regiert und unendliches Papier nach der neuesten Methode gefertigt wird. Die Maschinen, sämmtlich aus England, sind ausgezeichnet gearbeitet, die Gebäude und alle dazu gehörigen An- lagen im großartigsten Style. Die Zahl der Arbeiter beträgt etwa dreihundert, und täglich werden gegen

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 707. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/11>, abgerufen am 23.05.2024.