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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856.

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Rauschend und schäumend suchte sich der Fluß zu
unsern Füßen seinen Weg durch das enge Steinbett,
von Zeit zu Zeit in tiefen natürlichen Becken ausru-
hend, wo unter den vorspringenden Felsen das Wasser
im prachtvollsten Smaragdgrün schimmerte. Bald über
liebliche Wiesen voll saftigen Grüns, im Schatten hoch-
stämmiger Kastanien, bald an steilen Hängen auf= und
abkletternd, das Flüßchen auf zahlreichen Brücken und
Stegen überschreitend, führte unser Pfad den steilen
Kalkfelsen zu, die uns schon oberhalb San Marcello
entgegengeleuchtet hatten. Hinter uns stiegen das
Corno alle Scale und die nördlichen Gebirge in groß-
artigen Umrissen empor; vor uns schloß eine gewaltige
Felswand, wohl 1500 Fuß hoch ansteigend, die Thal-
öffnung. Dicht unter ihrem Gipfel hing -- man kann
nicht sagen, lag -- ein Dörfchen wie eines Adlers
Horst an dem von unserm Standpunkt fast senkrecht
erscheinenden Absturze. Auf dem Grat darüber ragen
die stattlichen Ruinen eines altersgrauen Schlosses, nur
durch die regelmäßigen Umrisse von der in Stoff und
Farbe gleichen Unterlage zu unterscheiden. Zwischen
den kleinen, unscheinbaren Häuschen des Dorfes erhebt
sich ein größeres Gebäude auf vorspringender Felsplatte:
der Aufenthalt einer englischen "Principessa," wie uns
ein Bewohner des Thales erzählte, die sich diesen luf-
tigen Sitz in der schwindelnden Höhe erbaut und ihn
zu ihrem Lieblingsaufenthalt erwählt hat. So steil sind
die Straßen des Dorfes, daß die kleinen Kinder, wenn
sie vor den Häusern spielen, von ihren Müttern an die
Hausthür festgebunden werden, damit sie nicht in die
furchtbare Tiefe stürzen, die zu ihren Füßen gähnt.
Ja, am Kirchwege ist der ganzen Länge nach ein Strick
gespannt, um die zum Gotteshause Wallenden vor dem
Hinabstürzen zu bewahren. Nur auf großen Umwegen
zu Fuß oder auf dem an Felsenpfade gewöhnten Maul-
thier ist der Ort zu erreichen. Und fragt man, warum
die Bewohner sich dort oben an dem dürren, wilden
Felsen angebaut haben, statt in dem freundlichen, ein-
ladenden Thalgrunde unten, so erhält man hier wie
immer dieselbe Antwort: weil sie vor Allem bedacht
seyn mußten, sich vor den Anfällen raubsüchtiger und
zerstörungslustiger Nachbaren zu schützen.

Nirgends erhalten wir einen deutlicheren Begriff
von den wilden und schrecklichen Zeiten des Faustrechts,
als in den Gebirgsgegenden Jtaliens, sey es, daß wir
die Schluchten des lucchesischen Apennins, die wilden
Gebirge der Garfagnana, daß wir die felsigen Höhen
des Sabinergebirgs, oder die einst blühenden und frucht-
baren, jetzt verödeten und trostlosen Höhenzüge des in-
nern Siciliens besuchen. Während in dem übrigen
Europa mit dem Steigen der Civilisation und dem
[Spaltenumbruch] Milderwerden der Sitten die Bewohner allmählig von
den unzugänglichen Höhen in die fruchtbaren Thäler
hinab stiegen, so daß nur noch die zerfallenden Trüm-
mer der Ritterburgen und alten Kirchen als Denkmale
der rauhen Vorzeit auf den Berggipfeln zurück blieben,
ist in Jtalien im äußern Ansehen des Landes seit vier
Jahrhunderten wenig verändert. Neue Ortschaften sind
kaum irgendwo gegründet; die Bewohner, meist ohne
Jndustrie und von allem spekulativen Sinn so fern als
möglich, bleiben in den alten Sitzen der Väter, bis
sie in Trümmer fallen. So ist's nichts seltenes, Dörfer
im Gebirge zu finden, in denen mehr als die Hälfte
der Häuser in Ruinen liegt, so daß ihre Bruchstücke
die Gassen versperren. -- Von San Marcello bis zu
den Bädern von Lucca fanden wir auf einer Strecke
von vierzehn italienischen Meilen nicht Eine Ortschaft
im Thalgrunde, während rings die steilsten Spitzen der
Höhen um uns her damit bekränzt erschienen.

Unterhalb Lucchio -- so heißt jenes Dorf am Ab-
hang -- reißt sich ein mächtiges Felsenthor aus weißen
Kalkklippen auf. Mehrere tausend Fuß hohe, furcht-
bar steile Berge umgeben uns von allen Seiten. Scharfe
Klippen in den wunderbarsten Formen starren von ihren
Seiten und Rücken wie die Borsten eines Stachelschweins.
Bald sind es Hörner und Nadeln, bald Zähne und
Zinken, bald Steinlabyrinthe, zuweilen eine wunderbar
täuschende Nachahmung zerfallener Burgen, an die
Sandsteinklippen der Vogesen erinnernd. Nur die un-
tersten Abhänge sind, wie der schmale Thalgrund, mit
einem bunten und üppigen Blumenflor bedeckt, weiter
oben ist alles nackter Fels. Nur das Rauschen der
zahlreichen Wasserfälle, die in Schaum zerstiebend von
den Felsen herabstürzen, oder plötzlich wie Silberfäden
aus den dunkeln, engen Schluchten hervor schießen,
welche sich bald links, bald rechts öffnen, oder das
Klappern eines einsamen Mühlrades unterbricht die
tiefe Stille. Auf dem ganzen langen Wege begegneten
wir kaum einem einzigen lebenden Wesen. Endlich
traten die Felsen mit senkrechtem Abfall zu beiden Sei-
ten an das Flußbett heran, mit wildem Tosen füllte
der Strom den engen Paß; hier weiter vorzudringen,
war unmöglich.

Wir mußten uns entschließen, dem Wege zu fol-
gen, der am linken Ufer den steilen Berghang nach
einem hoch oben liegenden Dorfe empor führt. Ueber
loses Geröll von scharfeckigen Kalksteinen, an gähnenden
Grotten vorüber, klommen wir mühsam unter dem
heißen Strahl der inzwischen hervorgetretenen Mittags-
sonne bis zu den ersten Häusern des Dorfes empor.
Aber nicht als ob wir hier am Ziele wären. Der An-
steig ist eben so steil, der Boden eben so ungleich als
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Rauschend und schäumend suchte sich der Fluß zu
unsern Füßen seinen Weg durch das enge Steinbett,
von Zeit zu Zeit in tiefen natürlichen Becken ausru-
hend, wo unter den vorspringenden Felsen das Wasser
im prachtvollsten Smaragdgrün schimmerte. Bald über
liebliche Wiesen voll saftigen Grüns, im Schatten hoch-
stämmiger Kastanien, bald an steilen Hängen auf= und
abkletternd, das Flüßchen auf zahlreichen Brücken und
Stegen überschreitend, führte unser Pfad den steilen
Kalkfelsen zu, die uns schon oberhalb San Marcello
entgegengeleuchtet hatten. Hinter uns stiegen das
Corno alle Scale und die nördlichen Gebirge in groß-
artigen Umrissen empor; vor uns schloß eine gewaltige
Felswand, wohl 1500 Fuß hoch ansteigend, die Thal-
öffnung. Dicht unter ihrem Gipfel hing — man kann
nicht sagen, lag — ein Dörfchen wie eines Adlers
Horst an dem von unserm Standpunkt fast senkrecht
erscheinenden Absturze. Auf dem Grat darüber ragen
die stattlichen Ruinen eines altersgrauen Schlosses, nur
durch die regelmäßigen Umrisse von der in Stoff und
Farbe gleichen Unterlage zu unterscheiden. Zwischen
den kleinen, unscheinbaren Häuschen des Dorfes erhebt
sich ein größeres Gebäude auf vorspringender Felsplatte:
der Aufenthalt einer englischen „Principessa,“ wie uns
ein Bewohner des Thales erzählte, die sich diesen luf-
tigen Sitz in der schwindelnden Höhe erbaut und ihn
zu ihrem Lieblingsaufenthalt erwählt hat. So steil sind
die Straßen des Dorfes, daß die kleinen Kinder, wenn
sie vor den Häusern spielen, von ihren Müttern an die
Hausthür festgebunden werden, damit sie nicht in die
furchtbare Tiefe stürzen, die zu ihren Füßen gähnt.
Ja, am Kirchwege ist der ganzen Länge nach ein Strick
gespannt, um die zum Gotteshause Wallenden vor dem
Hinabstürzen zu bewahren. Nur auf großen Umwegen
zu Fuß oder auf dem an Felsenpfade gewöhnten Maul-
thier ist der Ort zu erreichen. Und fragt man, warum
die Bewohner sich dort oben an dem dürren, wilden
Felsen angebaut haben, statt in dem freundlichen, ein-
ladenden Thalgrunde unten, so erhält man hier wie
immer dieselbe Antwort: weil sie vor Allem bedacht
seyn mußten, sich vor den Anfällen raubsüchtiger und
zerstörungslustiger Nachbaren zu schützen.

Nirgends erhalten wir einen deutlicheren Begriff
von den wilden und schrecklichen Zeiten des Faustrechts,
als in den Gebirgsgegenden Jtaliens, sey es, daß wir
die Schluchten des lucchesischen Apennins, die wilden
Gebirge der Garfagnana, daß wir die felsigen Höhen
des Sabinergebirgs, oder die einst blühenden und frucht-
baren, jetzt verödeten und trostlosen Höhenzüge des in-
nern Siciliens besuchen. Während in dem übrigen
Europa mit dem Steigen der Civilisation und dem
[Spaltenumbruch] Milderwerden der Sitten die Bewohner allmählig von
den unzugänglichen Höhen in die fruchtbaren Thäler
hinab stiegen, so daß nur noch die zerfallenden Trüm-
mer der Ritterburgen und alten Kirchen als Denkmale
der rauhen Vorzeit auf den Berggipfeln zurück blieben,
ist in Jtalien im äußern Ansehen des Landes seit vier
Jahrhunderten wenig verändert. Neue Ortschaften sind
kaum irgendwo gegründet; die Bewohner, meist ohne
Jndustrie und von allem spekulativen Sinn so fern als
möglich, bleiben in den alten Sitzen der Väter, bis
sie in Trümmer fallen. So ist's nichts seltenes, Dörfer
im Gebirge zu finden, in denen mehr als die Hälfte
der Häuser in Ruinen liegt, so daß ihre Bruchstücke
die Gassen versperren. — Von San Marcello bis zu
den Bädern von Lucca fanden wir auf einer Strecke
von vierzehn italienischen Meilen nicht Eine Ortschaft
im Thalgrunde, während rings die steilsten Spitzen der
Höhen um uns her damit bekränzt erschienen.

Unterhalb Lucchio — so heißt jenes Dorf am Ab-
hang — reißt sich ein mächtiges Felsenthor aus weißen
Kalkklippen auf. Mehrere tausend Fuß hohe, furcht-
bar steile Berge umgeben uns von allen Seiten. Scharfe
Klippen in den wunderbarsten Formen starren von ihren
Seiten und Rücken wie die Borsten eines Stachelschweins.
Bald sind es Hörner und Nadeln, bald Zähne und
Zinken, bald Steinlabyrinthe, zuweilen eine wunderbar
täuschende Nachahmung zerfallener Burgen, an die
Sandsteinklippen der Vogesen erinnernd. Nur die un-
tersten Abhänge sind, wie der schmale Thalgrund, mit
einem bunten und üppigen Blumenflor bedeckt, weiter
oben ist alles nackter Fels. Nur das Rauschen der
zahlreichen Wasserfälle, die in Schaum zerstiebend von
den Felsen herabstürzen, oder plötzlich wie Silberfäden
aus den dunkeln, engen Schluchten hervor schießen,
welche sich bald links, bald rechts öffnen, oder das
Klappern eines einsamen Mühlrades unterbricht die
tiefe Stille. Auf dem ganzen langen Wege begegneten
wir kaum einem einzigen lebenden Wesen. Endlich
traten die Felsen mit senkrechtem Abfall zu beiden Sei-
ten an das Flußbett heran, mit wildem Tosen füllte
der Strom den engen Paß; hier weiter vorzudringen,
war unmöglich.

Wir mußten uns entschließen, dem Wege zu fol-
gen, der am linken Ufer den steilen Berghang nach
einem hoch oben liegenden Dorfe empor führt. Ueber
loses Geröll von scharfeckigen Kalksteinen, an gähnenden
Grotten vorüber, klommen wir mühsam unter dem
heißen Strahl der inzwischen hervorgetretenen Mittags-
sonne bis zu den ersten Häusern des Dorfes empor.
Aber nicht als ob wir hier am Ziele wären. Der An-
steig ist eben so steil, der Boden eben so ungleich als
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Während in dem übrigen Europa mit dem Steigen der Civilisation und dem Milderwerden der Sitten die Bewohner allmählig von den unzugänglichen Höhen in die fruchtbaren Thäler hinab stiegen, so daß nur noch die zerfallenden Trüm- mer der Ritterburgen und alten Kirchen als Denkmale der rauhen Vorzeit auf den Berggipfeln zurück blieben, ist in Jtalien im äußern Ansehen des Landes seit vier Jahrhunderten wenig verändert. Neue Ortschaften sind kaum irgendwo gegründet; die Bewohner, meist ohne Jndustrie und von allem spekulativen Sinn so fern als möglich, bleiben in den alten Sitzen der Väter, bis sie in Trümmer fallen. So ist's nichts seltenes, Dörfer im Gebirge zu finden, in denen mehr als die Hälfte der Häuser in Ruinen liegt, so daß ihre Bruchstücke die Gassen versperren. — Von San Marcello bis zu den Bädern von Lucca fanden wir auf einer Strecke von vierzehn italienischen Meilen nicht Eine Ortschaft im Thalgrunde, während rings die steilsten Spitzen der Höhen um uns her damit bekränzt erschienen. Unterhalb Lucchio — so heißt jenes Dorf am Ab- hang — reißt sich ein mächtiges Felsenthor aus weißen Kalkklippen auf. Mehrere tausend Fuß hohe, furcht- bar steile Berge umgeben uns von allen Seiten. Scharfe Klippen in den wunderbarsten Formen starren von ihren Seiten und Rücken wie die Borsten eines Stachelschweins. Bald sind es Hörner und Nadeln, bald Zähne und Zinken, bald Steinlabyrinthe, zuweilen eine wunderbar täuschende Nachahmung zerfallener Burgen, an die Sandsteinklippen der Vogesen erinnernd. Nur die un- tersten Abhänge sind, wie der schmale Thalgrund, mit einem bunten und üppigen Blumenflor bedeckt, weiter oben ist alles nackter Fels. Nur das Rauschen der zahlreichen Wasserfälle, die in Schaum zerstiebend von den Felsen herabstürzen, oder plötzlich wie Silberfäden aus den dunkeln, engen Schluchten hervor schießen, welche sich bald links, bald rechts öffnen, oder das Klappern eines einsamen Mühlrades unterbricht die tiefe Stille. Auf dem ganzen langen Wege begegneten wir kaum einem einzigen lebenden Wesen. Endlich traten die Felsen mit senkrechtem Abfall zu beiden Sei- ten an das Flußbett heran, mit wildem Tosen füllte der Strom den engen Paß; hier weiter vorzudringen, war unmöglich. Wir mußten uns entschließen, dem Wege zu fol- gen, der am linken Ufer den steilen Berghang nach einem hoch oben liegenden Dorfe empor führt. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856, S. 730. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt31_1856/10>, abgerufen am 27.05.2024.