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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Sonne, jede ihren "Gantin" -- so heißt man in Mailand
die Muffe. Reizende Gruppen sehen von den Balkons
dieser königlichen Palaststraße nieder in das Treiben. Be-
sonders anziehend sind die Weiber mit dem nationalen
schwarzen Schleier über dem Haupte, den sie meist voll
Anmuth zu falten verstehen. Keine Mailänderin zeigt sich
ohne ihn; Modedamen legen ihn wenigstens über den
Hut, alte Weiber über die Haube, die kleinsten Mädchen
schon über ihr Lockenhaar. Dabei bemerkt man auch sonst
häufig schwarze Kleider; man könnte meinen, sie trauerten
alle. Ein Meer von hübschen, nichtssagenden Gesichtern,
denn besonders an der eleganten Männerwelt fällt bei der
schönen, regelmäßigen Form der Züge eine gewisse Leere
doppelt auf. Die Herrn, alt und jung, sitzen und stehen
wie in einem großen Conversationssaale, oft zu dichten
Massen geschaart und die Passage hemmend, längs den
Häuserreihen. Auch der Abbate machte Figur darunter,
und nicht selten erglänzt aus den schwarzen Wogen die
österreichische Uniform. Mancher kaiserliche Offizier führt
eine schwarzäugige Mailänderin am Arm. Man pflegt es
als ein Unglück für den deutschen Militär zu betrachten,
wenn er sich mit einer Jtalienerin vermählt. Die Damen
dieses Landes, mindestens in der vornehmen Welt, sollen
keinen Sinn für das Haus haben; alles nur für Reprä-
sentation und Vergnügen. Sie liegen zu Bette bis Mit-
tag, machen Toilette, fahren aus, auf den Corso, in's
Theater, geben und empfangen Besuche, schwatzen von
Moden und Jntriguen; das ist ihr ganzer Lebenslauf, wie
behauptet wird. Man versicherte uns, die Abenteuer, die
Liebesgeschichten seyen hier zahllos, und nur schwer ent-
gehe ihnen der Sohn des Mars. Mädchen, welche man
für die unerfahrensten halten müßte, und die kaum wag-
ten die Augen aufzuschlagen vor Schüchternheit, fänden
sich schon in solche Netze verstrickt, ohne daß die Eltern,
die Verwandten, die Freunde es ahnten; das tiefste Ge-
heimniß schwebe darüber, in den meisten Fällen sey nur
der Portier des Hauses eingeweiht. "Jch würde es selbst
nicht glauben, wenn ich es nicht mit meinen eigenen Au-
gen gesehen hätte," betheuerte uns ein Bekannter. "Jch
kenne eine Dame und einen Cavalier, von denen ich zu-
fällig weiß -- denn ich bin sein Herzensfreund -- daß
beide im vertrautesten Verhältnisse mit einander stehen;
und wenn sie sich in der Welt treffen, gehen sie im Sa-
lon an einander vorüber, als wenn sie sich nie gesehen
hätten; kein Blick, kein Gruß, kein Wort, kein Zucken
der Wimper verräth sie. Jch habe es oft als eine psy-
chologische Curiosität betrachtet."

Mit dem Abend wächst das heitere Gewühl in den
Straßen. Leier und Orgeln erklingen. Die Caf e s, die
Magazine strahlen im Dunkel auf. Wir ergötzten uns,
neben der Fülle der natürlichen Blumen, am Farbenglanze
der kostbaren, nach Art der persischen Tücher gewobenen
Seidenshawls. Besonders thun sich auch schwere Posa-
mentirarbeiten hervor. Die Welschen sind prächtig mit
Geschmack, nicht prunkend wie die Britten. Nicht weni-
[Spaltenumbruch] ger einladend als die Modehandlungen zeigen sich die la-
chenden Buden mit Eßwaaren; neben frischem und getrock-
netem Obste jeder Gattung, die feinsten Näschereien.
Unter den Schinken und den Wurstgeschlechtern herrschen
die gelben vor, die "Cervelati," welche man in die Suppe
legt.

Um die Stunde, wo das Leben in den Straßen sei-
nen Höhepunkt erreicht, gegen zehn Uhr Abends, fuhren
wir vom " uffizio della diligenza " hinter dem alten Kirch-
lein ab, eben auch eine von den oben erwähnten, vielfach
verzweigten Transportanstalten. Es war keine Kleinigkeit
gewesen, die Route so zu combiniren, daß ohne Aufent-
halt und Zeitverlust der Lago Maggiore doch mit hinein
geflochten werden konnte; ein förmliches Rechenexempel.
Um andern Zweifel und oft fruchtlose Erkundigungen zu
ersparen, wollen wir dieses Reiserecept in unsern Bericht
einschieben.

Wir langten nach einer Nacht, die sommerlich schmei-
chelnd begann, allein nur zu bald in jene bei der Fein-
heit der Luft so eigenthümlich durchdringende Kälte der
Lombardei umschlug, um sechs Uhr Morgens in Sesto
Calende an, wo der Condukteur uns nur Zeit zum Früh-
stück ließ, ehe er uns und unsere Effekten dem Capitän
des hier landenden Dampfers übergab. Noch schwebten
Nebelvorhänge auf dem Lago Maggiore. Aber plötzlich
tauchte, wirklich im Rosenschein, der Monte Rosa empor,
wie ein Verklärter hinter den dunkeln Bergen, als Bote
des Sonnenaufgangs. Jn Arona halfen uns die Beam-
ten mit einer Rücksicht, welche nicht genug zu rühmen ist,
unsere Koffer gegen Quittung an das Ufer zu senden
zum Depot auf der Eisenbahn. Man gefällt sich darin
in Deutschland, dem Reisenden die größte Angst vor Jta-
lien einzujagen. Leute, welche das Land nur im Spiegel
ihrer eigenen cholerischen Gemüthsart und Grazienlosigkeit
betrachten, reizen uns durch schauerliche Berichte so auf,
daß auch wir im ersten italienischen Gasthofe unser Haupt
wie in einer Mördergrube niederlegten und unsere Seele
dem Herrn empfahlen, von Stunde zu Stunde uns verwun-
dernd, daß uns kein Leid, sondern überall bloß Freund-
liches geschah. Wir haben stets nur Artigkeit gefunden,
und wo uns irgendwie Unangenehmes begegnete, so er-
fuhren wir es, die Wahrheitsliebe zwingt uns das zu er-
klären, nicht von italienischer, sondern von fremder Seite,
leider aber am meisten von Deutschen.

Hinter Arona, Angesichts des malerischen Profils des
Schlosses Angera schaut die kolossale Statue von Carlo
Borromeo auf die Fluth herab. Wo Gott so spricht
wie hier, sollte kein Mensch so riesig ragen, selbst nicht
ein Carlo Borromeo. Der Lago Maggiore hat einen hö-
heren Styl der Schönheit, als der von Como. Schon
der Hintergrund ist hier viel herrlicher, der ewige Alpen-
schnee. Wie ein grauer Geist, ein Urahne, taucht der
Simplon hinter den übrigen weißen Häuptern auf, ho-
heitsvoll herein zu schauen auf die frei und rein geschwun-
genen Formen des Gestades. Diese ärmsten Steinhüttchen
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Sonne, jede ihren „Gantin“ — so heißt man in Mailand
die Muffe. Reizende Gruppen sehen von den Balkons
dieser königlichen Palaststraße nieder in das Treiben. Be-
sonders anziehend sind die Weiber mit dem nationalen
schwarzen Schleier über dem Haupte, den sie meist voll
Anmuth zu falten verstehen. Keine Mailänderin zeigt sich
ohne ihn; Modedamen legen ihn wenigstens über den
Hut, alte Weiber über die Haube, die kleinsten Mädchen
schon über ihr Lockenhaar. Dabei bemerkt man auch sonst
häufig schwarze Kleider; man könnte meinen, sie trauerten
alle. Ein Meer von hübschen, nichtssagenden Gesichtern,
denn besonders an der eleganten Männerwelt fällt bei der
schönen, regelmäßigen Form der Züge eine gewisse Leere
doppelt auf. Die Herrn, alt und jung, sitzen und stehen
wie in einem großen Conversationssaale, oft zu dichten
Massen geschaart und die Passage hemmend, längs den
Häuserreihen. Auch der Abbate machte Figur darunter,
und nicht selten erglänzt aus den schwarzen Wogen die
österreichische Uniform. Mancher kaiserliche Offizier führt
eine schwarzäugige Mailänderin am Arm. Man pflegt es
als ein Unglück für den deutschen Militär zu betrachten,
wenn er sich mit einer Jtalienerin vermählt. Die Damen
dieses Landes, mindestens in der vornehmen Welt, sollen
keinen Sinn für das Haus haben; alles nur für Reprä-
sentation und Vergnügen. Sie liegen zu Bette bis Mit-
tag, machen Toilette, fahren aus, auf den Corso, in's
Theater, geben und empfangen Besuche, schwatzen von
Moden und Jntriguen; das ist ihr ganzer Lebenslauf, wie
behauptet wird. Man versicherte uns, die Abenteuer, die
Liebesgeschichten seyen hier zahllos, und nur schwer ent-
gehe ihnen der Sohn des Mars. Mädchen, welche man
für die unerfahrensten halten müßte, und die kaum wag-
ten die Augen aufzuschlagen vor Schüchternheit, fänden
sich schon in solche Netze verstrickt, ohne daß die Eltern,
die Verwandten, die Freunde es ahnten; das tiefste Ge-
heimniß schwebe darüber, in den meisten Fällen sey nur
der Portier des Hauses eingeweiht. „Jch würde es selbst
nicht glauben, wenn ich es nicht mit meinen eigenen Au-
gen gesehen hätte,“ betheuerte uns ein Bekannter. „Jch
kenne eine Dame und einen Cavalier, von denen ich zu-
fällig weiß — denn ich bin sein Herzensfreund — daß
beide im vertrautesten Verhältnisse mit einander stehen;
und wenn sie sich in der Welt treffen, gehen sie im Sa-
lon an einander vorüber, als wenn sie sich nie gesehen
hätten; kein Blick, kein Gruß, kein Wort, kein Zucken
der Wimper verräth sie. Jch habe es oft als eine psy-
chologische Curiosität betrachtet.“

Mit dem Abend wächst das heitere Gewühl in den
Straßen. Leier und Orgeln erklingen. Die Caf é s, die
Magazine strahlen im Dunkel auf. Wir ergötzten uns,
neben der Fülle der natürlichen Blumen, am Farbenglanze
der kostbaren, nach Art der persischen Tücher gewobenen
Seidenshawls. Besonders thun sich auch schwere Posa-
mentirarbeiten hervor. Die Welschen sind prächtig mit
Geschmack, nicht prunkend wie die Britten. Nicht weni-
[Spaltenumbruch] ger einladend als die Modehandlungen zeigen sich die la-
chenden Buden mit Eßwaaren; neben frischem und getrock-
netem Obste jeder Gattung, die feinsten Näschereien.
Unter den Schinken und den Wurstgeschlechtern herrschen
die gelben vor, die „Cervelati,“ welche man in die Suppe
legt.

Um die Stunde, wo das Leben in den Straßen sei-
nen Höhepunkt erreicht, gegen zehn Uhr Abends, fuhren
wir vom » uffizio della diligenza « hinter dem alten Kirch-
lein ab, eben auch eine von den oben erwähnten, vielfach
verzweigten Transportanstalten. Es war keine Kleinigkeit
gewesen, die Route so zu combiniren, daß ohne Aufent-
halt und Zeitverlust der Lago Maggiore doch mit hinein
geflochten werden konnte; ein förmliches Rechenexempel.
Um andern Zweifel und oft fruchtlose Erkundigungen zu
ersparen, wollen wir dieses Reiserecept in unsern Bericht
einschieben.

Wir langten nach einer Nacht, die sommerlich schmei-
chelnd begann, allein nur zu bald in jene bei der Fein-
heit der Luft so eigenthümlich durchdringende Kälte der
Lombardei umschlug, um sechs Uhr Morgens in Sesto
Calende an, wo der Condukteur uns nur Zeit zum Früh-
stück ließ, ehe er uns und unsere Effekten dem Capitän
des hier landenden Dampfers übergab. Noch schwebten
Nebelvorhänge auf dem Lago Maggiore. Aber plötzlich
tauchte, wirklich im Rosenschein, der Monte Rosa empor,
wie ein Verklärter hinter den dunkeln Bergen, als Bote
des Sonnenaufgangs. Jn Arona halfen uns die Beam-
ten mit einer Rücksicht, welche nicht genug zu rühmen ist,
unsere Koffer gegen Quittung an das Ufer zu senden
zum Depot auf der Eisenbahn. Man gefällt sich darin
in Deutschland, dem Reisenden die größte Angst vor Jta-
lien einzujagen. Leute, welche das Land nur im Spiegel
ihrer eigenen cholerischen Gemüthsart und Grazienlosigkeit
betrachten, reizen uns durch schauerliche Berichte so auf,
daß auch wir im ersten italienischen Gasthofe unser Haupt
wie in einer Mördergrube niederlegten und unsere Seele
dem Herrn empfahlen, von Stunde zu Stunde uns verwun-
dernd, daß uns kein Leid, sondern überall bloß Freund-
liches geschah. Wir haben stets nur Artigkeit gefunden,
und wo uns irgendwie Unangenehmes begegnete, so er-
fuhren wir es, die Wahrheitsliebe zwingt uns das zu er-
klären, nicht von italienischer, sondern von fremder Seite,
leider aber am meisten von Deutschen.

Hinter Arona, Angesichts des malerischen Profils des
Schlosses Angera schaut die kolossale Statue von Carlo
Borromeo auf die Fluth herab. Wo Gott so spricht
wie hier, sollte kein Mensch so riesig ragen, selbst nicht
ein Carlo Borromeo. Der Lago Maggiore hat einen hö-
heren Styl der Schönheit, als der von Como. Schon
der Hintergrund ist hier viel herrlicher, der ewige Alpen-
schnee. Wie ein grauer Geist, ein Urahne, taucht der
Simplon hinter den übrigen weißen Häuptern auf, ho-
heitsvoll herein zu schauen auf die frei und rein geschwun-
genen Formen des Gestades. Diese ärmsten Steinhüttchen
[Ende Spaltensatz]

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Die Caf é s, die Magazine strahlen im Dunkel auf. Wir ergötzten uns, neben der Fülle der natürlichen Blumen, am Farbenglanze der kostbaren, nach Art der persischen Tücher gewobenen Seidenshawls. Besonders thun sich auch schwere Posa- mentirarbeiten hervor. Die Welschen sind prächtig mit Geschmack, nicht prunkend wie die Britten. Nicht weni- ger einladend als die Modehandlungen zeigen sich die la- chenden Buden mit Eßwaaren; neben frischem und getrock- netem Obste jeder Gattung, die feinsten Näschereien. Unter den Schinken und den Wurstgeschlechtern herrschen die gelben vor, die „Cervelati,“ welche man in die Suppe legt. Um die Stunde, wo das Leben in den Straßen sei- nen Höhepunkt erreicht, gegen zehn Uhr Abends, fuhren wir vom » uffizio della diligenza « hinter dem alten Kirch- lein ab, eben auch eine von den oben erwähnten, vielfach verzweigten Transportanstalten. Es war keine Kleinigkeit gewesen, die Route so zu combiniren, daß ohne Aufent- halt und Zeitverlust der Lago Maggiore doch mit hinein geflochten werden konnte; ein förmliches Rechenexempel. Um andern Zweifel und oft fruchtlose Erkundigungen zu ersparen, wollen wir dieses Reiserecept in unsern Bericht einschieben. Wir langten nach einer Nacht, die sommerlich schmei- chelnd begann, allein nur zu bald in jene bei der Fein- heit der Luft so eigenthümlich durchdringende Kälte der Lombardei umschlug, um sechs Uhr Morgens in Sesto Calende an, wo der Condukteur uns nur Zeit zum Früh- stück ließ, ehe er uns und unsere Effekten dem Capitän des hier landenden Dampfers übergab. Noch schwebten Nebelvorhänge auf dem Lago Maggiore. Aber plötzlich tauchte, wirklich im Rosenschein, der Monte Rosa empor, wie ein Verklärter hinter den dunkeln Bergen, als Bote des Sonnenaufgangs. Jn Arona halfen uns die Beam- ten mit einer Rücksicht, welche nicht genug zu rühmen ist, unsere Koffer gegen Quittung an das Ufer zu senden zum Depot auf der Eisenbahn. Man gefällt sich darin in Deutschland, dem Reisenden die größte Angst vor Jta- lien einzujagen. Leute, welche das Land nur im Spiegel ihrer eigenen cholerischen Gemüthsart und Grazienlosigkeit betrachten, reizen uns durch schauerliche Berichte so auf, daß auch wir im ersten italienischen Gasthofe unser Haupt wie in einer Mördergrube niederlegten und unsere Seele dem Herrn empfahlen, von Stunde zu Stunde uns verwun- dernd, daß uns kein Leid, sondern überall bloß Freund- liches geschah. Wir haben stets nur Artigkeit gefunden, und wo uns irgendwie Unangenehmes begegnete, so er- fuhren wir es, die Wahrheitsliebe zwingt uns das zu er- klären, nicht von italienischer, sondern von fremder Seite, leider aber am meisten von Deutschen. Hinter Arona, Angesichts des malerischen Profils des Schlosses Angera schaut die kolossale Statue von Carlo Borromeo auf die Fluth herab. Wo Gott so spricht wie hier, sollte kein Mensch so riesig ragen, selbst nicht ein Carlo Borromeo. Der Lago Maggiore hat einen hö- heren Styl der Schönheit, als der von Como. Schon der Hintergrund ist hier viel herrlicher, der ewige Alpen- schnee. Wie ein grauer Geist, ein Urahne, taucht der Simplon hinter den übrigen weißen Häuptern auf, ho- heitsvoll herein zu schauen auf die frei und rein geschwun- genen Formen des Gestades. Diese ärmsten Steinhüttchen

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856, S. 743. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt31_1856/23>, abgerufen am 06.06.2024.