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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Jnteresse an dieser Sache geht mir über alles, folglich
auch über die Liebe, wenn man solche Spielereien Liebe
nennen kann. Nur für Mary glaube ich Ernsteres
empfunden zu haben, allein sie hat mich durch die Be-
schimpfung meiner Verse gründlich davon curirt." --
"Und die kleine blonde Frau, welche ich heute bei dei-
ner Mutter sah? Wenn sie dir nicht gleichgültiger ist
als du ihr --" -- "Jch schwöre dir," rief Tom, "daß
unsere Beziehung die reinste ist. Sie hat mir immer
nur eine beschützende Freundin seyn wollen. Doch --
gute Nacht!"



Zwei Monate waren vergangen, und der Mo-
ment herangekommen, wo Smith den beabsichtigten
Besuch bei Walpole ausführen konnte. Dieser da-
mals in der vollen Blüthe seines Ansehens stehende
Schriftsteller, Staatsmann und Kunstdilettant brachte
den Sommer auf seiner neuerworbenen, bei Richmond,
einige Stunden von London gelegenen Villa zu. Die
Villa befand sich auf einer leichten Anhöhe über dem
rechten Themseufer in einer mehr lieblichen, als groß-
artigen oder pittoresken Umgebung; die Themse, bei
London ein gewaltiger Strom, die größten Schiffe tra-
gend und verpestet und braun gefärbt durch den Umgang
mit der Weltstadt, war dort noch das harmlose Silber-
flüßchen, als welches es die Dichter in der goldenen
Aera der Elisabeth priesen, nur schiffbar für die zier-
lichen bunten Nachen, in welchen die schöne Welt heute
noch so gern als jemals ihre musikbegleiteten Lustfahr-
ten macht. Jn vielfachen, starken Windungen schlän-
gelt sich der Fluß durch ein enges, saftiggrünes Wie-
senthal, welches steile, allein niedere, bald einfach be-
waldete, bald parkartig angelegte Hügel begrenzen, und
diese schmücken freundliche weiße Landsitze, darunter
das bekannte Twickenham, das Tusculum des großen
Kunstdichters Pope, erworben und eingerichtet mit dem
reichlichen Ertrag seiner Homerübersetzung.

Die Stoppelbude -- denn diesen prosaischen Namen
führte ursprünglich Walpole's Villa -- war erst vor
Kurzem in den Besitz dieses Edelmanns übergegangen,
worauf er sogleich jene derbe, naturwüchsige Bezeich-
nung in die feinere des "Erdbeerenbergs" verwandelte,
welche den Vorzug hatte, der ästhetischen Zeittheorie
gemäß den Begriff des Nützlichen mit dem des Ange-
nehmen zu verbinden, und die plebejischen Antecedentien
des Platzes doch nicht allzusehr verleugnete. Allein
mehr noch als am Namen änderte der neue Besitzer
an der Sache selbst, welche er aus einem bescheidenen
Landsitz zu einer wahren Musterkarte aller Baustyle,
so wie zu einer Kunst= und Raritätensammlung des
[Spaltenumbruch] verschiedensten Jnhalts und des ungleichartigsten Wer-
thes machte. So wurde der Erdbeerenberg ein ge-
treuer Spiegel seines Besitzers, dieses vielseitigen, ober-
flächlichen Dilettanten, dieses zweifelsüchtigen, kosmopoli-
tischen Egoisten, dieses hochgeborenen, reichen Libera-
len, welcher an sich wiederum das gelungenste Bild der
wichtigsten Seite seines Zeitalters vorstellt. Für nichts
begeistert, hatte er für Alles Jnteresse; an keinem Ort
gründlich, besaß er überall blendende Kenntnisse; ohne
selbst viel leisten zu wollen, schöpfte er für seinen Pri-
vatgenuß den geistigen Rahm von jeder neuen Rich-
tung; er tadelte, allein nicht mit der Absicht zu bessern,
sondern aus Lust an der Medisance; er philosophirte,
allein ohne Hinblick auf den Endzweck des Wahren;
einen Voltaire verehrend, einen Rousseau verschmähend,
war er in Ueberzeugung und Geschmack bis an die
letzte Grenze der Aufklärung und Frivolität seines Jahr-
hunderts vorangeschritten, allein er that nichts, um
seine Erkenntniß zur Geltung zu bringen, er rührte
mit keinem Finger an dem Bestehenden, die politische
Maxime seines Vaters: " Quieta non movere! Was
ruht, lasse man ruhen!" in jeder Hinsicht befolgend.

Den Erdbeerenberg machte er zum Tempel seines
Kunstgeschmacks. Walpole war unter denen, welche die
Reaktion der Romantik, des Volksthümlichen und Na-
türlichen gegen die Herrschaft des französischen Ge-
schmacks, gegen die stabile, universelle Classicität des
Zeitalters Ludwigs XIV. vorbereiteten. Dorthin ge-
hörte schon seit Jahren sein epochemachender, gespen-
stiger Schauerroman, das Schloß von Otranto, dorthin
zielte jetzt auch die Einrichtung der Villa. Allein er
war nicht der Mann, welcher mit den alten Zuständen
definitiv bricht, um der neuen Richtung ganz und ent-
schieden anzugehören; ihm war die Gothik nur ein neues
Element, welches die Renaissance nicht verdrängte, son-
dern nur hinzukam, sie verjüngte, dem Abgestandenen
frischen Schaum, dem matten Brei neues Salz gab.
So blieb das geradlinige, lange und niedere Gebäude,
welches er vorfand, die Grundlage, und auf dieses
der emporstrebenden Gothik todfeindliche Element pfropfte
er seine romantischen Neuerungen. Er setzte den Thüren
und Fenstern stolze Spitzbogen auf, mit reicher, künst-
licher Ornamentik, allein nur äußerlich, nur für's
Auge, nur in Gyps statt in Stein; die Thüre selbst
blieb doch viereckt, das Fenster behielt doch seinen run-
den Bogen, trotz des farbigen Glases, welches das
letztere, trotz des schweren, schwarzen Eichengetäfels,
welches erstere schmückte. Mehr Wirklichkeit hatten
einige An= und Neubauten; ein Kreuzgang mit einer
Pfeilerstellung auf der einen und einer Reihe von nach-
gemachten Grabsteinen auf der andern Seite schloß sich
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Jnteresse an dieser Sache geht mir über alles, folglich
auch über die Liebe, wenn man solche Spielereien Liebe
nennen kann. Nur für Mary glaube ich Ernsteres
empfunden zu haben, allein sie hat mich durch die Be-
schimpfung meiner Verse gründlich davon curirt.“ —
„Und die kleine blonde Frau, welche ich heute bei dei-
ner Mutter sah? Wenn sie dir nicht gleichgültiger ist
als du ihr —“ — „Jch schwöre dir,“ rief Tom, „daß
unsere Beziehung die reinste ist. Sie hat mir immer
nur eine beschützende Freundin seyn wollen. Doch —
gute Nacht!“



Zwei Monate waren vergangen, und der Mo-
ment herangekommen, wo Smith den beabsichtigten
Besuch bei Walpole ausführen konnte. Dieser da-
mals in der vollen Blüthe seines Ansehens stehende
Schriftsteller, Staatsmann und Kunstdilettant brachte
den Sommer auf seiner neuerworbenen, bei Richmond,
einige Stunden von London gelegenen Villa zu. Die
Villa befand sich auf einer leichten Anhöhe über dem
rechten Themseufer in einer mehr lieblichen, als groß-
artigen oder pittoresken Umgebung; die Themse, bei
London ein gewaltiger Strom, die größten Schiffe tra-
gend und verpestet und braun gefärbt durch den Umgang
mit der Weltstadt, war dort noch das harmlose Silber-
flüßchen, als welches es die Dichter in der goldenen
Aera der Elisabeth priesen, nur schiffbar für die zier-
lichen bunten Nachen, in welchen die schöne Welt heute
noch so gern als jemals ihre musikbegleiteten Lustfahr-
ten macht. Jn vielfachen, starken Windungen schlän-
gelt sich der Fluß durch ein enges, saftiggrünes Wie-
senthal, welches steile, allein niedere, bald einfach be-
waldete, bald parkartig angelegte Hügel begrenzen, und
diese schmücken freundliche weiße Landsitze, darunter
das bekannte Twickenham, das Tusculum des großen
Kunstdichters Pope, erworben und eingerichtet mit dem
reichlichen Ertrag seiner Homerübersetzung.

Die Stoppelbude — denn diesen prosaischen Namen
führte ursprünglich Walpole's Villa — war erst vor
Kurzem in den Besitz dieses Edelmanns übergegangen,
worauf er sogleich jene derbe, naturwüchsige Bezeich-
nung in die feinere des „Erdbeerenbergs“ verwandelte,
welche den Vorzug hatte, der ästhetischen Zeittheorie
gemäß den Begriff des Nützlichen mit dem des Ange-
nehmen zu verbinden, und die plebejischen Antecedentien
des Platzes doch nicht allzusehr verleugnete. Allein
mehr noch als am Namen änderte der neue Besitzer
an der Sache selbst, welche er aus einem bescheidenen
Landsitz zu einer wahren Musterkarte aller Baustyle,
so wie zu einer Kunst= und Raritätensammlung des
[Spaltenumbruch] verschiedensten Jnhalts und des ungleichartigsten Wer-
thes machte. So wurde der Erdbeerenberg ein ge-
treuer Spiegel seines Besitzers, dieses vielseitigen, ober-
flächlichen Dilettanten, dieses zweifelsüchtigen, kosmopoli-
tischen Egoisten, dieses hochgeborenen, reichen Libera-
len, welcher an sich wiederum das gelungenste Bild der
wichtigsten Seite seines Zeitalters vorstellt. Für nichts
begeistert, hatte er für Alles Jnteresse; an keinem Ort
gründlich, besaß er überall blendende Kenntnisse; ohne
selbst viel leisten zu wollen, schöpfte er für seinen Pri-
vatgenuß den geistigen Rahm von jeder neuen Rich-
tung; er tadelte, allein nicht mit der Absicht zu bessern,
sondern aus Lust an der Medisance; er philosophirte,
allein ohne Hinblick auf den Endzweck des Wahren;
einen Voltaire verehrend, einen Rousseau verschmähend,
war er in Ueberzeugung und Geschmack bis an die
letzte Grenze der Aufklärung und Frivolität seines Jahr-
hunderts vorangeschritten, allein er that nichts, um
seine Erkenntniß zur Geltung zu bringen, er rührte
mit keinem Finger an dem Bestehenden, die politische
Maxime seines Vaters: » Quieta non movere! Was
ruht, lasse man ruhen!“ in jeder Hinsicht befolgend.

Den Erdbeerenberg machte er zum Tempel seines
Kunstgeschmacks. Walpole war unter denen, welche die
Reaktion der Romantik, des Volksthümlichen und Na-
türlichen gegen die Herrschaft des französischen Ge-
schmacks, gegen die stabile, universelle Classicität des
Zeitalters Ludwigs XIV. vorbereiteten. Dorthin ge-
hörte schon seit Jahren sein epochemachender, gespen-
stiger Schauerroman, das Schloß von Otranto, dorthin
zielte jetzt auch die Einrichtung der Villa. Allein er
war nicht der Mann, welcher mit den alten Zuständen
definitiv bricht, um der neuen Richtung ganz und ent-
schieden anzugehören; ihm war die Gothik nur ein neues
Element, welches die Renaissance nicht verdrängte, son-
dern nur hinzukam, sie verjüngte, dem Abgestandenen
frischen Schaum, dem matten Brei neues Salz gab.
So blieb das geradlinige, lange und niedere Gebäude,
welches er vorfand, die Grundlage, und auf dieses
der emporstrebenden Gothik todfeindliche Element pfropfte
er seine romantischen Neuerungen. Er setzte den Thüren
und Fenstern stolze Spitzbogen auf, mit reicher, künst-
licher Ornamentik, allein nur äußerlich, nur für's
Auge, nur in Gyps statt in Stein; die Thüre selbst
blieb doch viereckt, das Fenster behielt doch seinen run-
den Bogen, trotz des farbigen Glases, welches das
letztere, trotz des schweren, schwarzen Eichengetäfels,
welches erstere schmückte. Mehr Wirklichkeit hatten
einige An= und Neubauten; ein Kreuzgang mit einer
Pfeilerstellung auf der einen und einer Reihe von nach-
gemachten Grabsteinen auf der andern Seite schloß sich
[Ende Spaltensatz]

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Die Villa befand sich auf einer leichten Anhöhe über dem rechten Themseufer in einer mehr lieblichen, als groß- artigen oder pittoresken Umgebung; die Themse, bei London ein gewaltiger Strom, die größten Schiffe tra- gend und verpestet und braun gefärbt durch den Umgang mit der Weltstadt, war dort noch das harmlose Silber- flüßchen, als welches es die Dichter in der goldenen Aera der Elisabeth priesen, nur schiffbar für die zier- lichen bunten Nachen, in welchen die schöne Welt heute noch so gern als jemals ihre musikbegleiteten Lustfahr- ten macht. Jn vielfachen, starken Windungen schlän- gelt sich der Fluß durch ein enges, saftiggrünes Wie- senthal, welches steile, allein niedere, bald einfach be- waldete, bald parkartig angelegte Hügel begrenzen, und diese schmücken freundliche weiße Landsitze, darunter das bekannte Twickenham, das Tusculum des großen Kunstdichters Pope, erworben und eingerichtet mit dem reichlichen Ertrag seiner Homerübersetzung. Die Stoppelbude — denn diesen prosaischen Namen führte ursprünglich Walpole's Villa — war erst vor Kurzem in den Besitz dieses Edelmanns übergegangen, worauf er sogleich jene derbe, naturwüchsige Bezeich- nung in die feinere des „Erdbeerenbergs“ verwandelte, welche den Vorzug hatte, der ästhetischen Zeittheorie gemäß den Begriff des Nützlichen mit dem des Ange- nehmen zu verbinden, und die plebejischen Antecedentien des Platzes doch nicht allzusehr verleugnete. Allein mehr noch als am Namen änderte der neue Besitzer an der Sache selbst, welche er aus einem bescheidenen Landsitz zu einer wahren Musterkarte aller Baustyle, so wie zu einer Kunst= und Raritätensammlung des verschiedensten Jnhalts und des ungleichartigsten Wer- thes machte. So wurde der Erdbeerenberg ein ge- treuer Spiegel seines Besitzers, dieses vielseitigen, ober- flächlichen Dilettanten, dieses zweifelsüchtigen, kosmopoli- tischen Egoisten, dieses hochgeborenen, reichen Libera- len, welcher an sich wiederum das gelungenste Bild der wichtigsten Seite seines Zeitalters vorstellt. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856, S. 1090. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/10>, abgerufen am 27.05.2024.