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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] zu deren Lokal man ein antikes Theater gewählt hat, die
prachtvoll dargestellte Allegorie der Zeit ( Phöbus mit sei-
nen weißen Sonnenrossen ) u. a., was sich ja doch in der
Beschreibung nie so recht wiedergeben läßt.

Schließlich noch einige Bemerkungen über das Stück
selbst. -- Man hat wohl mit Recht gesagt, daß jedes Zeit-
alter sein eigenes Lustspiel haben müsse, wie auch jedes
Zeitalter seine eigenen Moden hat. So ein Shakspere-
sches Lustspiel duftet uns immer, wenn es noch so gut
gegeben wird, ein bischen fremdartig an. Allein wie rei-
zend verschlingen sich doch in diesem Wintermährchen Will-
kür und Nothwendigkeit, Scherz und Ernst, die Tragik
des Schicksals und die heitere Laune des Mährchens! Der
bunte Wechsel des Ortes und der Scenen paßt zu dem
Ganzen, das Schäferspiel fügt sich reizend hinein, gegen
den Schluß hin quillt alles voll Lebensfreude, und aus
voller Kehle läßt der Gaudieb Autolycus sein " Vanitas
Vanitatum Vanitas
" in das Stück herein schallen. Welch
herrliche Lyrik in dem Munde des Gauners:

"When daffodils begin to peer,
With heigh! the doxy over the dale,
Why, then comes in the sweet o'the year;
For the red blood reigns in the winter's pale."

Ein solch kecker Päan der Lebensfreude ist noch selten von
einem Dichter angestimmt worden.

Wenn man zu der historischen Treue und dem Glanz
der Ausstattung, welche die Shakspere=Aufführungen im
Princeß'stheater auszeichnen, etwas mehr Geist und fri-
scheres Leben des Spiels hinzuthun wollte, so könnte dieses
fashionable Westendtheater ein weltberühmtes Shakspere-
theater werden.

Ein großer Gegenstand in der dießjährigen Season
war die italienische Oper. Sie wissen, daß das Opern-
haus von Coventgarden abgebrannt und Her Majesty's
Theatre
wieder eröffnet ist. Die italienische Oper im
letzteren Hause ist seit Ende Septembers geschlossen. Lumley
wird, wenn er von seiner Reise in die Provinzen, die er
mit der Gräfin Piccolomini antreten will, zurückgekehrt
ist, während des Winters eine englische Oper dort er-
richten. Was ist eine "englische Oper?" werden Jhre Leser
fragen. Antwort: eine solche, in welcher englisch gesun-
gen wird. Rien de plus.

Her Majesty's Theatre ist unstreitig eines der glän-
zendsten Opernhäuser in Europa. Es ist ungleich höher
und geräumiger, als Coventgarden war, obwohl die Bühne
kleiner ist. Die Logenreihen sind nicht, wie sie es in Co-
ventgarden waren und im Lyceum sind, mit rothem Tuche,
sondern mit gelber Seide ausgeschlagen, was dem Auge
wohl thut. Die Tapeten, womit das Jnnere der Logen
bekleidet ist, sind von einem matten Grau. Ein auf dieser
Bühne gefeierter Triumph ist ungleich bedeutender, als
Erfolge, welche in kleineren Opernhäusern errungen wer-
den, weil nun einmal Her Majesty's Theatre das wahre
und glänzende Hauptstadttheater ist. Das Londoner Pu-
[Spaltenumbruch] blikum ist Direktor Lumley für die Riesenanstrengungen,
die er gemacht hat, um zum Resultate der Wiedereröff-
nung des Theaters zu gelangen, zu großem Dank verpflichtet.
Durch große Mannigfaltigkeit des Repertoires zeichnet sich
gerade keine Londoner Bühne aus. Namentlich ist aber
das der Oper in Her Majesty's Theatre eben so wenig
wie das der Oper im Lyceum in diesem Sommer ein rei-
ches zu nennen gewesen. Eigentliche große Opern sind
auf beiden Bühnen nicht gegeben worden. So gehörte es
u. a. für die Musikliebhaber unserer Hauptstadt zu den
empfindlichsten Verlusten und disappointments dieser
"todten Season," daß keine der hier so sehr beliebten
Meyerbeer'schen Opern gegeben wurde. Eine musikalische
Season ohne die Hugenotten ( die gerade in diesem Som-
mer als Jllustration des jetzt in England so fashionablen
Protestantismus besonders am Platze gewesen wären ) ,
ohne den Propheten, den Robert, oder den Nordstern ist
nach dem Geschmacke unseres Publikums ohnehin schon
eine "todte." Von klassischen Opern wurde im Lyceum der
einzige Don Juan gegeben. Doch hatte das Lyceum, wenn
auch kein klassisches Repertoire, doch eine annähernd klassi-
sche Truppe aufzuweisen: Mario, Mad. Grisi ( obwohl
nun schon etwas antiquirt ) , Mad. Bosio, Mad. Didier,
Mad. Ney u. a. Will man so recht den Unterschied zwi-
schen einem guten italienischen und einem deutschen Tenor
fassen, muß man in Donizettis Don Pasquale die Sere-
nade Come e gentile -- eine so reizend süße Melodie,
wie wir wenige kennen -- von Mario und von Reichardt
hören. Jn Marios Mund macht diese Serenade den Ein-
druck eines italienischen Sonnenaufgangs; von Reichardt
gesungen -- der sonst hier ein aus Hannover - Square-
Rooms her ziemlich populärer Concertsänger und als dra-
matischer Sänger zweiten Rangs nicht übel ist -- scheint es,
als ob die Nebeltöne eines morosen nordischen Herbsitages
darüber lägen. Mario und Tamberlick ( letzterer war in
dieser Season nicht hier ) sind unstreitig die bedeutendsten
zur Zeit existirenden Tenore. Schade, daß die Lebens-
hpilosophie dieser süßen südländischen Stimmen gerade
nicht die des Goethe'schen Sängers, und daß diese melo-
dischen Kehlen für deutsche Theaterkassen so ziemlich un-
möglich sind. Sie mögen auch England schon wegen der
hier zu Lande Jahr aus Jahr ein herrschenden italieni-
schen Sympathien Deutschland vorziehen. Jm Kunstgarten
der Beamtengesellschaften unserer kleinen Städte würden
ihnen schwerlich so viele Rosen wachsen.

Die stereotypen Klagen unserer Künstler und Künst-
lerinnen, daß sie hier von den Jntriguen der Jtaliener
so viel leiden müßten und von der englischen Kritik hin-
ter ihnen zurückgesetzt würden, wollen wir hier nicht nä-
her untersuchen. Sicher ist, daß viele von ihnen aus
unsern kleinen Cliquen und Städten mit mehr Ansprüchen
hieher kommen, als England zu befriedigen geneigt ist,
und daß sie den Vorurtheilen, welche die mittlere und ein
Theil der höheren englischen Gesellschaft seit dem Kriege
hin und wieder gegen das deutsche Element hegen mögen,
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] zu deren Lokal man ein antikes Theater gewählt hat, die
prachtvoll dargestellte Allegorie der Zeit ( Phöbus mit sei-
nen weißen Sonnenrossen ) u. a., was sich ja doch in der
Beschreibung nie so recht wiedergeben läßt.

Schließlich noch einige Bemerkungen über das Stück
selbst. — Man hat wohl mit Recht gesagt, daß jedes Zeit-
alter sein eigenes Lustspiel haben müsse, wie auch jedes
Zeitalter seine eigenen Moden hat. So ein Shakspere-
sches Lustspiel duftet uns immer, wenn es noch so gut
gegeben wird, ein bischen fremdartig an. Allein wie rei-
zend verschlingen sich doch in diesem Wintermährchen Will-
kür und Nothwendigkeit, Scherz und Ernst, die Tragik
des Schicksals und die heitere Laune des Mährchens! Der
bunte Wechsel des Ortes und der Scenen paßt zu dem
Ganzen, das Schäferspiel fügt sich reizend hinein, gegen
den Schluß hin quillt alles voll Lebensfreude, und aus
voller Kehle läßt der Gaudieb Autolycus sein » Vanitas
Vanitatum Vanitas
« in das Stück herein schallen. Welch
herrliche Lyrik in dem Munde des Gauners:

»When daffodils begin to peer,
With heigh! the doxy over the dale,
Why, then comes in the sweet o'the year;
For the red blood reigns in the winter's pale

Ein solch kecker Päan der Lebensfreude ist noch selten von
einem Dichter angestimmt worden.

Wenn man zu der historischen Treue und dem Glanz
der Ausstattung, welche die Shakspere=Aufführungen im
Princeß'stheater auszeichnen, etwas mehr Geist und fri-
scheres Leben des Spiels hinzuthun wollte, so könnte dieses
fashionable Westendtheater ein weltberühmtes Shakspere-
theater werden.

Ein großer Gegenstand in der dießjährigen Season
war die italienische Oper. Sie wissen, daß das Opern-
haus von Coventgarden abgebrannt und Her Majesty's
Theatre
wieder eröffnet ist. Die italienische Oper im
letzteren Hause ist seit Ende Septembers geschlossen. Lumley
wird, wenn er von seiner Reise in die Provinzen, die er
mit der Gräfin Piccolomini antreten will, zurückgekehrt
ist, während des Winters eine englische Oper dort er-
richten. Was ist eine „englische Oper?“ werden Jhre Leser
fragen. Antwort: eine solche, in welcher englisch gesun-
gen wird. Rien de plus.

Her Majesty's Theatre ist unstreitig eines der glän-
zendsten Opernhäuser in Europa. Es ist ungleich höher
und geräumiger, als Coventgarden war, obwohl die Bühne
kleiner ist. Die Logenreihen sind nicht, wie sie es in Co-
ventgarden waren und im Lyceum sind, mit rothem Tuche,
sondern mit gelber Seide ausgeschlagen, was dem Auge
wohl thut. Die Tapeten, womit das Jnnere der Logen
bekleidet ist, sind von einem matten Grau. Ein auf dieser
Bühne gefeierter Triumph ist ungleich bedeutender, als
Erfolge, welche in kleineren Opernhäusern errungen wer-
den, weil nun einmal Her Majesty's Theatre das wahre
und glänzende Hauptstadttheater ist. Das Londoner Pu-
[Spaltenumbruch] blikum ist Direktor Lumley für die Riesenanstrengungen,
die er gemacht hat, um zum Resultate der Wiedereröff-
nung des Theaters zu gelangen, zu großem Dank verpflichtet.
Durch große Mannigfaltigkeit des Repertoires zeichnet sich
gerade keine Londoner Bühne aus. Namentlich ist aber
das der Oper in Her Majesty's Theatre eben so wenig
wie das der Oper im Lyceum in diesem Sommer ein rei-
ches zu nennen gewesen. Eigentliche große Opern sind
auf beiden Bühnen nicht gegeben worden. So gehörte es
u. a. für die Musikliebhaber unserer Hauptstadt zu den
empfindlichsten Verlusten und disappointments dieser
„todten Season,“ daß keine der hier so sehr beliebten
Meyerbeer'schen Opern gegeben wurde. Eine musikalische
Season ohne die Hugenotten ( die gerade in diesem Som-
mer als Jllustration des jetzt in England so fashionablen
Protestantismus besonders am Platze gewesen wären ) ,
ohne den Propheten, den Robert, oder den Nordstern ist
nach dem Geschmacke unseres Publikums ohnehin schon
eine „todte.“ Von klassischen Opern wurde im Lyceum der
einzige Don Juan gegeben. Doch hatte das Lyceum, wenn
auch kein klassisches Repertoire, doch eine annähernd klassi-
sche Truppe aufzuweisen: Mario, Mad. Grisi ( obwohl
nun schon etwas antiquirt ) , Mad. Bosio, Mad. Didier,
Mad. Ney u. a. Will man so recht den Unterschied zwi-
schen einem guten italienischen und einem deutschen Tenor
fassen, muß man in Donizettis Don Pasquale die Sere-
nade Come è gentile — eine so reizend süße Melodie,
wie wir wenige kennen — von Mario und von Reichardt
hören. Jn Marios Mund macht diese Serenade den Ein-
druck eines italienischen Sonnenaufgangs; von Reichardt
gesungen — der sonst hier ein aus Hannover - Square-
Rooms her ziemlich populärer Concertsänger und als dra-
matischer Sänger zweiten Rangs nicht übel ist — scheint es,
als ob die Nebeltöne eines morosen nordischen Herbsitages
darüber lägen. Mario und Tamberlick ( letzterer war in
dieser Season nicht hier ) sind unstreitig die bedeutendsten
zur Zeit existirenden Tenore. Schade, daß die Lebens-
hpilosophie dieser süßen südländischen Stimmen gerade
nicht die des Goethe'schen Sängers, und daß diese melo-
dischen Kehlen für deutsche Theaterkassen so ziemlich un-
möglich sind. Sie mögen auch England schon wegen der
hier zu Lande Jahr aus Jahr ein herrschenden italieni-
schen Sympathien Deutschland vorziehen. Jm Kunstgarten
der Beamtengesellschaften unserer kleinen Städte würden
ihnen schwerlich so viele Rosen wachsen.

Die stereotypen Klagen unserer Künstler und Künst-
lerinnen, daß sie hier von den Jntriguen der Jtaliener
so viel leiden müßten und von der englischen Kritik hin-
ter ihnen zurückgesetzt würden, wollen wir hier nicht nä-
her untersuchen. Sicher ist, daß viele von ihnen aus
unsern kleinen Cliquen und Städten mit mehr Ansprüchen
hieher kommen, als England zu befriedigen geneigt ist,
und daß sie den Vorurtheilen, welche die mittlere und ein
Theil der höheren englischen Gesellschaft seit dem Kriege
hin und wieder gegen das deutsche Element hegen mögen,
[Ende Spaltensatz]

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Das Londoner Pu- blikum ist Direktor Lumley für die Riesenanstrengungen, die er gemacht hat, um zum Resultate der Wiedereröff- nung des Theaters zu gelangen, zu großem Dank verpflichtet. Durch große Mannigfaltigkeit des Repertoires zeichnet sich gerade keine Londoner Bühne aus. Namentlich ist aber das der Oper in Her Majesty's Theatre eben so wenig wie das der Oper im Lyceum in diesem Sommer ein rei- ches zu nennen gewesen. Eigentliche große Opern sind auf beiden Bühnen nicht gegeben worden. So gehörte es u. a. für die Musikliebhaber unserer Hauptstadt zu den empfindlichsten Verlusten und disappointments dieser „todten Season,“ daß keine der hier so sehr beliebten Meyerbeer'schen Opern gegeben wurde. 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Jn Marios Mund macht diese Serenade den Ein- druck eines italienischen Sonnenaufgangs; von Reichardt gesungen — der sonst hier ein aus Hannover - Square- Rooms her ziemlich populärer Concertsänger und als dra- matischer Sänger zweiten Rangs nicht übel ist — scheint es, als ob die Nebeltöne eines morosen nordischen Herbsitages darüber lägen. Mario und Tamberlick ( letzterer war in dieser Season nicht hier ) sind unstreitig die bedeutendsten zur Zeit existirenden Tenore. Schade, daß die Lebens- hpilosophie dieser süßen südländischen Stimmen gerade nicht die des Goethe'schen Sängers, und daß diese melo- dischen Kehlen für deutsche Theaterkassen so ziemlich un- möglich sind. Sie mögen auch England schon wegen der hier zu Lande Jahr aus Jahr ein herrschenden italieni- schen Sympathien Deutschland vorziehen. Jm Kunstgarten der Beamtengesellschaften unserer kleinen Städte würden ihnen schwerlich so viele Rosen wachsen. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856, S. 1148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt48_1856/20>, abgerufen am 28.05.2024.