Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

[Beginn Spaltensatz] ja der Kunstdichter mit seinem Bogen da, die Saiten
zu streichen.

Solchen Gedanken kam die Wissenschaft von anderer
Seite entgegen. Wir haben oben nach den allgemeinsten
Zügen den wissenschaftlichen Geist zu schildern gesucht,
wie er gegenwärtig arbeitet, alles Menschliche in seinen
unveränderlichen, wie in seinen wechselnden Formen phy-
siologisch zu fassen und zu begreifen. Ein bedeutendes
Pensum innerhalb dieser unermeßlichen Arbeit ist aber
das Wesen der Stände, in welche sich die Gruppen des
Menschengeschlechts überall mit einer gewissen naturge-
setzlichen Nothwendigkeit gliedern. An keinem Punkte
berühren sich die drängenden praktischen Fragen der Ge-
genwart und der reine Wissenstrieb näher als hier.
Die Forschung säumte auch nicht, die Stände als Na-
turbildungen zu studiren, ihren innern Bau bloßzulegen,
Umfang und Bedeutung ihrer Verrichtungen als feste
Organe des Gesellschaftskörpers nachzuweisen, im Uebri-
gen es Gott anheimstellend, ob man damit früh oder
spät werde besser regieren lernen. Auf diesem Wege
wurde denn nun auch die Naturgeschichte des Bauern
und Landmanns, der auf einmal fast als der wichtigste
Stand erschien, in verschiedener Weise bearbeitet. Unter
so vielem Unersprießlichen dieser Zustände stieß da die
sichtende Hand doch auch auf manches Korn der Poesie,
das sie vorzuweisen nicht versäumte. Neben den staatli-
chen und ökonomischen Beziehungen, neben allen Lasten
und Sorgen, die das Antlitz des Landmanns erdwärts
beugen, kam auch alles zur Entfaltung, was ihn von
der Scholle losreißt, sein Stolz und sein Selbstgefühl,
seine Feiertagslust und sein Hochzeitbrauch, der Schrei
seines Muthwillens und die Melodien seiner Liebe.
Und als vollends unser Volksnaturhistoriker Riehl
zwischen dem socialen Bild des Bauern und dem
des Edelmanns die auffallendste Aehnlichkeit fand und
dieselbe an zahlreichen Zügen nachwies, da konnte die
Bauernnovelle kommen, sobald sie wollte, wenn sie nicht
schon da war, und die vornehmsten Damen bezweifelten
es am allerwenigsten, daß man nur an der Brust des
Bauern horchen dürfe, um die Quelle der Poesie rau-
schen zu hören.

So ist denn die Dorfgeschichte offenbar ein unmittelba-
res Erzeugniß der neuesten Cultur, und die neuere Sprach-
forschung und die sogenannte Socialpolitik erscheinen als
die beiden galvanischen Elemente, durch deren Wechsel-
wirkung sie sich aus dem allgemeinen geistigen Fluidum
ausgeschieden hat. Jst nun auch diese Abhängigkeit der
Literatur vom Genius ihrer Zeit ein allgemeines und
nothwendiges Verhältniß, so ist es doch nicht leicht so
augenfällig als an diesem Beispiel, und dieses Produkt
erhält dadurch für uns ein von seiner innern literarischen
[Spaltenumbruch] Bedeutung unabhängiges Jnteresse. Was die ganze Li-
teraturgeschichte lehrt, das sehen wir hier, wie durch ein
bündiges Experiment, an einer Gattung erläutert, der
wir den Boden haben zubereiten sehen, die vor unsern
Augen aufgewachfen ist, geblüht hat und jetzt abzu-
blühen scheint.

Daß auch der größte und verwegenste Kopf die
Dorfgeschichte oder irgend etwas nicht aus freier Hand
machen und dem Publikum aufdrängen kann, ja daß er
dieß nicht einmal wollen kann; daß der Dichter und
Schriftsteller bewußt und unbewußt immer nur an sich
zieht und von sich gibt, was seine Zeit fordert und er-
trägt -- das ist für sich klar. Unser Fall zeigt aber
auch, welcher Art die allgemeinen Anschauungen
sind, die sich zu mehr oder weniger dauernden poe-
tischen Bildungen verkörpern lassen. So hätte die
bloße Appellation an Gefühl und Leidenschaft, selbst
die nachdrücklichste, die Gattung der Dorfgeschichte
niemals weder entstehen noch bestehen lassen. Trotz
alles sentimentalen Humanismus, trotz der hitzigen
Vorstellungen von der Gleichheit aller Menschen und
der Allgemeinheit der Menschenrechte hätte die Poesie
der gebildeten Welt des vorigen Jahrhunderts nie ein-
geredet, daß Fürst und Bauer auch vor der Poesie gleich
seyen, und daß im Landleben ganz andere Jdyllen stecken,
als die durch porzellanene Schäferfiguren repräsentirt
werden. Vollends der demokratische Geisteraufruhr der
jüngsten Zeit hätte in diesem Punkte in Wirklichkeit so
unfruchtbar seyn müssen, als er es in politischer nur
scheinbar war, wenn nicht die untern Stände, als von
den Grundrechten deutscher Nation die Rede wurde, be-
reits im verbrieften Besitz ihrer poetischen Menschenrechte
gewesen wären. Vielmehr muß die Welt, an die sich
die Literatur zunächst wendet, wenn sie für eine neue Form
schwärmen soll, die Voraussetzungen, auf die sich diese
Form gründet, nicht sowohl eigentlich wissen, als nur
wissen, daß sie überhaupt gewußt werden, und in Folge
davon daran glauben. Durch das tiefere Studium unserer
alten Literatur und durch die fleißigste Beobachtung des
heutigen innern und äußern Lebens der niedern Stände
kam lebhafter als je zum Bewußtseyn, daß zu allen
Zeiten und in allen Lebenslagen die Menschenbrust
dasselbe wunderbare Tonwerkzeug ist, auf dem Natur
und Geist die mannigfaltigsten Accorde mit unverän-
dertem Grundton greifen; es wurde durch unmittelbare
Beobachtung dargethan, daß dieses Jnstrument noch
heute hinter dem Pflug und beim stampfenden Reigen,
im Erntefeld und unter dem Kammerfenster die süßesten
Melodien spielt. Diese Erkenntniß wurde mit so vielen
andern von selbst ein festes Element des geistigen Luft-
kreises, den wir alle athmen, und sie floß auch in das
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] ja der Kunstdichter mit seinem Bogen da, die Saiten
zu streichen.

Solchen Gedanken kam die Wissenschaft von anderer
Seite entgegen. Wir haben oben nach den allgemeinsten
Zügen den wissenschaftlichen Geist zu schildern gesucht,
wie er gegenwärtig arbeitet, alles Menschliche in seinen
unveränderlichen, wie in seinen wechselnden Formen phy-
siologisch zu fassen und zu begreifen. Ein bedeutendes
Pensum innerhalb dieser unermeßlichen Arbeit ist aber
das Wesen der Stände, in welche sich die Gruppen des
Menschengeschlechts überall mit einer gewissen naturge-
setzlichen Nothwendigkeit gliedern. An keinem Punkte
berühren sich die drängenden praktischen Fragen der Ge-
genwart und der reine Wissenstrieb näher als hier.
Die Forschung säumte auch nicht, die Stände als Na-
turbildungen zu studiren, ihren innern Bau bloßzulegen,
Umfang und Bedeutung ihrer Verrichtungen als feste
Organe des Gesellschaftskörpers nachzuweisen, im Uebri-
gen es Gott anheimstellend, ob man damit früh oder
spät werde besser regieren lernen. Auf diesem Wege
wurde denn nun auch die Naturgeschichte des Bauern
und Landmanns, der auf einmal fast als der wichtigste
Stand erschien, in verschiedener Weise bearbeitet. Unter
so vielem Unersprießlichen dieser Zustände stieß da die
sichtende Hand doch auch auf manches Korn der Poesie,
das sie vorzuweisen nicht versäumte. Neben den staatli-
chen und ökonomischen Beziehungen, neben allen Lasten
und Sorgen, die das Antlitz des Landmanns erdwärts
beugen, kam auch alles zur Entfaltung, was ihn von
der Scholle losreißt, sein Stolz und sein Selbstgefühl,
seine Feiertagslust und sein Hochzeitbrauch, der Schrei
seines Muthwillens und die Melodien seiner Liebe.
Und als vollends unser Volksnaturhistoriker Riehl
zwischen dem socialen Bild des Bauern und dem
des Edelmanns die auffallendste Aehnlichkeit fand und
dieselbe an zahlreichen Zügen nachwies, da konnte die
Bauernnovelle kommen, sobald sie wollte, wenn sie nicht
schon da war, und die vornehmsten Damen bezweifelten
es am allerwenigsten, daß man nur an der Brust des
Bauern horchen dürfe, um die Quelle der Poesie rau-
schen zu hören.

So ist denn die Dorfgeschichte offenbar ein unmittelba-
res Erzeugniß der neuesten Cultur, und die neuere Sprach-
forschung und die sogenannte Socialpolitik erscheinen als
die beiden galvanischen Elemente, durch deren Wechsel-
wirkung sie sich aus dem allgemeinen geistigen Fluidum
ausgeschieden hat. Jst nun auch diese Abhängigkeit der
Literatur vom Genius ihrer Zeit ein allgemeines und
nothwendiges Verhältniß, so ist es doch nicht leicht so
augenfällig als an diesem Beispiel, und dieses Produkt
erhält dadurch für uns ein von seiner innern literarischen
[Spaltenumbruch] Bedeutung unabhängiges Jnteresse. Was die ganze Li-
teraturgeschichte lehrt, das sehen wir hier, wie durch ein
bündiges Experiment, an einer Gattung erläutert, der
wir den Boden haben zubereiten sehen, die vor unsern
Augen aufgewachfen ist, geblüht hat und jetzt abzu-
blühen scheint.

Daß auch der größte und verwegenste Kopf die
Dorfgeschichte oder irgend etwas nicht aus freier Hand
machen und dem Publikum aufdrängen kann, ja daß er
dieß nicht einmal wollen kann; daß der Dichter und
Schriftsteller bewußt und unbewußt immer nur an sich
zieht und von sich gibt, was seine Zeit fordert und er-
trägt — das ist für sich klar. Unser Fall zeigt aber
auch, welcher Art die allgemeinen Anschauungen
sind, die sich zu mehr oder weniger dauernden poe-
tischen Bildungen verkörpern lassen. So hätte die
bloße Appellation an Gefühl und Leidenschaft, selbst
die nachdrücklichste, die Gattung der Dorfgeschichte
niemals weder entstehen noch bestehen lassen. Trotz
alles sentimentalen Humanismus, trotz der hitzigen
Vorstellungen von der Gleichheit aller Menschen und
der Allgemeinheit der Menschenrechte hätte die Poesie
der gebildeten Welt des vorigen Jahrhunderts nie ein-
geredet, daß Fürst und Bauer auch vor der Poesie gleich
seyen, und daß im Landleben ganz andere Jdyllen stecken,
als die durch porzellanene Schäferfiguren repräsentirt
werden. Vollends der demokratische Geisteraufruhr der
jüngsten Zeit hätte in diesem Punkte in Wirklichkeit so
unfruchtbar seyn müssen, als er es in politischer nur
scheinbar war, wenn nicht die untern Stände, als von
den Grundrechten deutscher Nation die Rede wurde, be-
reits im verbrieften Besitz ihrer poetischen Menschenrechte
gewesen wären. Vielmehr muß die Welt, an die sich
die Literatur zunächst wendet, wenn sie für eine neue Form
schwärmen soll, die Voraussetzungen, auf die sich diese
Form gründet, nicht sowohl eigentlich wissen, als nur
wissen, daß sie überhaupt gewußt werden, und in Folge
davon daran glauben. Durch das tiefere Studium unserer
alten Literatur und durch die fleißigste Beobachtung des
heutigen innern und äußern Lebens der niedern Stände
kam lebhafter als je zum Bewußtseyn, daß zu allen
Zeiten und in allen Lebenslagen die Menschenbrust
dasselbe wunderbare Tonwerkzeug ist, auf dem Natur
und Geist die mannigfaltigsten Accorde mit unverän-
dertem Grundton greifen; es wurde durch unmittelbare
Beobachtung dargethan, daß dieses Jnstrument noch
heute hinter dem Pflug und beim stampfenden Reigen,
im Erntefeld und unter dem Kammerfenster die süßesten
Melodien spielt. Diese Erkenntniß wurde mit so vielen
andern von selbst ein festes Element des geistigen Luft-
kreises, den wir alle athmen, und sie floß auch in das
[Ende Spaltensatz]

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <p><pb facs="#f0005" n="1133"/><fw type="pageNum" place="top">1133</fw><cb type="start"/>
ja der Kunstdichter mit seinem Bogen da, die Saiten<lb/>
zu streichen.</p><lb/>
        <p>Solchen Gedanken kam die Wissenschaft von anderer<lb/>
Seite entgegen. Wir haben oben nach den allgemeinsten<lb/>
Zügen den wissenschaftlichen Geist zu schildern gesucht,<lb/>
wie er gegenwärtig arbeitet, alles Menschliche in seinen<lb/>
unveränderlichen, wie in seinen wechselnden Formen phy-<lb/>
siologisch zu fassen und zu begreifen. Ein bedeutendes<lb/>
Pensum innerhalb dieser unermeßlichen Arbeit ist aber<lb/>
das Wesen der Stände, in welche sich die Gruppen des<lb/>
Menschengeschlechts überall mit einer gewissen naturge-<lb/>
setzlichen Nothwendigkeit gliedern. An keinem Punkte<lb/>
berühren sich die drängenden praktischen Fragen der Ge-<lb/>
genwart und der reine Wissenstrieb näher als hier.<lb/>
Die Forschung säumte auch nicht, die Stände als Na-<lb/>
turbildungen zu studiren, ihren innern Bau bloßzulegen,<lb/>
Umfang und Bedeutung ihrer Verrichtungen als feste<lb/>
Organe des Gesellschaftskörpers nachzuweisen, im Uebri-<lb/>
gen es Gott anheimstellend, ob man damit früh oder<lb/>
spät werde besser regieren lernen. Auf diesem Wege<lb/>
wurde denn nun auch die Naturgeschichte des Bauern<lb/>
und Landmanns, der auf einmal fast als der wichtigste<lb/>
Stand erschien, in verschiedener Weise bearbeitet. Unter<lb/>
so vielem Unersprießlichen dieser Zustände stieß da die<lb/>
sichtende Hand doch auch auf manches Korn der Poesie,<lb/>
das sie vorzuweisen nicht versäumte. Neben den staatli-<lb/>
chen und ökonomischen Beziehungen, neben allen Lasten<lb/>
und Sorgen, die das Antlitz des Landmanns erdwärts<lb/>
beugen, kam auch alles zur Entfaltung, was ihn von<lb/>
der Scholle losreißt, sein Stolz und sein Selbstgefühl,<lb/>
seine Feiertagslust und sein Hochzeitbrauch, der Schrei<lb/>
seines Muthwillens und die Melodien seiner Liebe.<lb/>
Und als vollends unser Volksnaturhistoriker Riehl<lb/>
zwischen dem socialen Bild des Bauern und dem<lb/>
des Edelmanns die auffallendste Aehnlichkeit fand und<lb/>
dieselbe an zahlreichen Zügen nachwies, da konnte die<lb/>
Bauernnovelle kommen, sobald sie wollte, wenn sie nicht<lb/>
schon da war, und die vornehmsten Damen bezweifelten<lb/>
es am allerwenigsten, daß man nur an der Brust des<lb/>
Bauern horchen dürfe, um die Quelle der Poesie rau-<lb/>
schen zu hören.</p><lb/>
        <p>So ist denn die Dorfgeschichte offenbar ein unmittelba-<lb/>
res Erzeugniß der neuesten Cultur, und die neuere Sprach-<lb/>
forschung und die sogenannte Socialpolitik erscheinen als<lb/>
die beiden galvanischen Elemente, durch deren Wechsel-<lb/>
wirkung sie sich aus dem allgemeinen geistigen Fluidum<lb/>
ausgeschieden hat. Jst nun auch diese Abhängigkeit der<lb/>
Literatur vom Genius ihrer Zeit ein allgemeines und<lb/>
nothwendiges Verhältniß, so ist es doch nicht leicht so<lb/>
augenfällig als an diesem Beispiel, und dieses Produkt<lb/>
erhält dadurch für uns ein von seiner innern literarischen<lb/><cb n="2"/>
Bedeutung unabhängiges Jnteresse. Was die ganze Li-<lb/>
teraturgeschichte lehrt, das sehen wir hier, wie durch ein<lb/>
bündiges Experiment, an einer Gattung erläutert, der<lb/>
wir den Boden haben zubereiten sehen, die vor unsern<lb/>
Augen aufgewachfen ist, geblüht hat und jetzt abzu-<lb/>
blühen scheint.</p><lb/>
        <p>Daß auch der größte und verwegenste Kopf die<lb/>
Dorfgeschichte oder irgend etwas nicht aus freier Hand<lb/>
machen und dem Publikum aufdrängen kann, ja daß er<lb/>
dieß nicht einmal wollen kann; daß der Dichter und<lb/>
Schriftsteller bewußt und unbewußt immer nur an sich<lb/>
zieht und von sich gibt, was seine Zeit fordert und er-<lb/>
trägt &#x2014; das ist für sich klar. Unser Fall zeigt aber<lb/>
auch, <hi rendition="#g">welcher Art</hi> die allgemeinen Anschauungen<lb/>
sind, die sich zu mehr oder weniger dauernden poe-<lb/>
tischen Bildungen verkörpern lassen. So hätte die<lb/>
bloße Appellation an Gefühl und Leidenschaft, selbst<lb/>
die nachdrücklichste, die Gattung der Dorfgeschichte<lb/>
niemals weder entstehen noch bestehen lassen. Trotz<lb/>
alles sentimentalen Humanismus, trotz der hitzigen<lb/>
Vorstellungen von der Gleichheit aller Menschen und<lb/>
der Allgemeinheit der Menschenrechte hätte die Poesie<lb/>
der gebildeten Welt des vorigen Jahrhunderts nie ein-<lb/>
geredet, daß Fürst und Bauer auch vor der Poesie gleich<lb/>
seyen, und daß im Landleben ganz andere Jdyllen stecken,<lb/>
als die durch porzellanene Schäferfiguren repräsentirt<lb/>
werden. Vollends der demokratische Geisteraufruhr der<lb/>
jüngsten Zeit hätte in diesem Punkte in Wirklichkeit so<lb/>
unfruchtbar seyn müssen, als er es in politischer nur<lb/>
scheinbar war, wenn nicht die untern Stände, als von<lb/>
den Grundrechten deutscher Nation die Rede wurde, be-<lb/>
reits im verbrieften Besitz ihrer poetischen Menschenrechte<lb/>
gewesen wären. Vielmehr muß die Welt, an die sich<lb/>
die Literatur zunächst wendet, wenn sie für eine neue Form<lb/>
schwärmen soll, die Voraussetzungen, auf die sich diese<lb/>
Form gründet, nicht sowohl eigentlich <hi rendition="#g">wissen,</hi> als nur<lb/>
wissen, daß sie überhaupt gewußt werden, und in Folge<lb/>
davon daran <hi rendition="#g">glauben.</hi> Durch das tiefere Studium unserer<lb/>
alten Literatur und durch die fleißigste Beobachtung des<lb/>
heutigen innern und äußern Lebens der niedern Stände<lb/>
kam lebhafter als je zum Bewußtseyn, daß zu allen<lb/>
Zeiten und in allen Lebenslagen die Menschenbrust<lb/>
dasselbe wunderbare Tonwerkzeug ist, auf dem Natur<lb/>
und Geist die mannigfaltigsten Accorde mit unverän-<lb/>
dertem Grundton greifen; es wurde durch unmittelbare<lb/>
Beobachtung dargethan, daß dieses Jnstrument noch<lb/>
heute hinter dem Pflug und beim stampfenden Reigen,<lb/>
im Erntefeld und unter dem Kammerfenster die süßesten<lb/>
Melodien spielt. Diese Erkenntniß wurde mit so vielen<lb/>
andern von selbst ein festes Element des geistigen Luft-<lb/>
kreises, den wir alle athmen, und sie floß auch in das<lb/><cb type="end"/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1133/0005] 1133 ja der Kunstdichter mit seinem Bogen da, die Saiten zu streichen. Solchen Gedanken kam die Wissenschaft von anderer Seite entgegen. Wir haben oben nach den allgemeinsten Zügen den wissenschaftlichen Geist zu schildern gesucht, wie er gegenwärtig arbeitet, alles Menschliche in seinen unveränderlichen, wie in seinen wechselnden Formen phy- siologisch zu fassen und zu begreifen. Ein bedeutendes Pensum innerhalb dieser unermeßlichen Arbeit ist aber das Wesen der Stände, in welche sich die Gruppen des Menschengeschlechts überall mit einer gewissen naturge- setzlichen Nothwendigkeit gliedern. An keinem Punkte berühren sich die drängenden praktischen Fragen der Ge- genwart und der reine Wissenstrieb näher als hier. Die Forschung säumte auch nicht, die Stände als Na- turbildungen zu studiren, ihren innern Bau bloßzulegen, Umfang und Bedeutung ihrer Verrichtungen als feste Organe des Gesellschaftskörpers nachzuweisen, im Uebri- gen es Gott anheimstellend, ob man damit früh oder spät werde besser regieren lernen. Auf diesem Wege wurde denn nun auch die Naturgeschichte des Bauern und Landmanns, der auf einmal fast als der wichtigste Stand erschien, in verschiedener Weise bearbeitet. Unter so vielem Unersprießlichen dieser Zustände stieß da die sichtende Hand doch auch auf manches Korn der Poesie, das sie vorzuweisen nicht versäumte. Neben den staatli- chen und ökonomischen Beziehungen, neben allen Lasten und Sorgen, die das Antlitz des Landmanns erdwärts beugen, kam auch alles zur Entfaltung, was ihn von der Scholle losreißt, sein Stolz und sein Selbstgefühl, seine Feiertagslust und sein Hochzeitbrauch, der Schrei seines Muthwillens und die Melodien seiner Liebe. Und als vollends unser Volksnaturhistoriker Riehl zwischen dem socialen Bild des Bauern und dem des Edelmanns die auffallendste Aehnlichkeit fand und dieselbe an zahlreichen Zügen nachwies, da konnte die Bauernnovelle kommen, sobald sie wollte, wenn sie nicht schon da war, und die vornehmsten Damen bezweifelten es am allerwenigsten, daß man nur an der Brust des Bauern horchen dürfe, um die Quelle der Poesie rau- schen zu hören. So ist denn die Dorfgeschichte offenbar ein unmittelba- res Erzeugniß der neuesten Cultur, und die neuere Sprach- forschung und die sogenannte Socialpolitik erscheinen als die beiden galvanischen Elemente, durch deren Wechsel- wirkung sie sich aus dem allgemeinen geistigen Fluidum ausgeschieden hat. Jst nun auch diese Abhängigkeit der Literatur vom Genius ihrer Zeit ein allgemeines und nothwendiges Verhältniß, so ist es doch nicht leicht so augenfällig als an diesem Beispiel, und dieses Produkt erhält dadurch für uns ein von seiner innern literarischen Bedeutung unabhängiges Jnteresse. Was die ganze Li- teraturgeschichte lehrt, das sehen wir hier, wie durch ein bündiges Experiment, an einer Gattung erläutert, der wir den Boden haben zubereiten sehen, die vor unsern Augen aufgewachfen ist, geblüht hat und jetzt abzu- blühen scheint. Daß auch der größte und verwegenste Kopf die Dorfgeschichte oder irgend etwas nicht aus freier Hand machen und dem Publikum aufdrängen kann, ja daß er dieß nicht einmal wollen kann; daß der Dichter und Schriftsteller bewußt und unbewußt immer nur an sich zieht und von sich gibt, was seine Zeit fordert und er- trägt — das ist für sich klar. Unser Fall zeigt aber auch, welcher Art die allgemeinen Anschauungen sind, die sich zu mehr oder weniger dauernden poe- tischen Bildungen verkörpern lassen. So hätte die bloße Appellation an Gefühl und Leidenschaft, selbst die nachdrücklichste, die Gattung der Dorfgeschichte niemals weder entstehen noch bestehen lassen. Trotz alles sentimentalen Humanismus, trotz der hitzigen Vorstellungen von der Gleichheit aller Menschen und der Allgemeinheit der Menschenrechte hätte die Poesie der gebildeten Welt des vorigen Jahrhunderts nie ein- geredet, daß Fürst und Bauer auch vor der Poesie gleich seyen, und daß im Landleben ganz andere Jdyllen stecken, als die durch porzellanene Schäferfiguren repräsentirt werden. Vollends der demokratische Geisteraufruhr der jüngsten Zeit hätte in diesem Punkte in Wirklichkeit so unfruchtbar seyn müssen, als er es in politischer nur scheinbar war, wenn nicht die untern Stände, als von den Grundrechten deutscher Nation die Rede wurde, be- reits im verbrieften Besitz ihrer poetischen Menschenrechte gewesen wären. Vielmehr muß die Welt, an die sich die Literatur zunächst wendet, wenn sie für eine neue Form schwärmen soll, die Voraussetzungen, auf die sich diese Form gründet, nicht sowohl eigentlich wissen, als nur wissen, daß sie überhaupt gewußt werden, und in Folge davon daran glauben. Durch das tiefere Studium unserer alten Literatur und durch die fleißigste Beobachtung des heutigen innern und äußern Lebens der niedern Stände kam lebhafter als je zum Bewußtseyn, daß zu allen Zeiten und in allen Lebenslagen die Menschenbrust dasselbe wunderbare Tonwerkzeug ist, auf dem Natur und Geist die mannigfaltigsten Accorde mit unverän- dertem Grundton greifen; es wurde durch unmittelbare Beobachtung dargethan, daß dieses Jnstrument noch heute hinter dem Pflug und beim stampfenden Reigen, im Erntefeld und unter dem Kammerfenster die süßesten Melodien spielt. Diese Erkenntniß wurde mit so vielen andern von selbst ein festes Element des geistigen Luft- kreises, den wir alle athmen, und sie floß auch in das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt48_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt48_1856/5
Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856, S. 1133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt48_1856/5>, abgerufen am 28.05.2024.