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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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öffentlichen Häuser ist sehr groß, und daß Inhaber und Inwohner meist Juden resp. Jüdinnen sind, ist bekannt. Es gehört natürlich nicht in den Rahmen meines Berichtes, über den Einfluß der Bordelle und das System der Reglementierung zu sprechen: doch war es mir interessant, konstatieren zu können, daß die Föderationsidee anfängt, auch in Galizien Anhänger zu gewinnen. Man mag persönlich zu derselben stehen wie man will, jede Kampfesweise ist zu begrüßen, die es sich zur Aufgabe stellt, von irgend einem Punkte aus die Volkskrankheit in Ursache und Wirkung anzugreifen und dadurch beginnt, die Volkskraft vor Verfall zu bewahren.

Für Galizien ist aber eines klar: weder die Bordelle noch der Mädchenhandel werden im stande sein, einen so korrumpierenden Einfluß auf die Bevölkerung auszuüben, wie die durch das ganze Land verbreitete und das Land verseuchende geheime Prostitution. Für die Beurteilung der Sachlage ist von größter Wichtigkeit, daß es nicht nur Not und Verführung sind, die die Mädchen zum Verkauf ihres Körpers drängen. Es ist mir wiederholt, und besonders von medizinischer Seite gesagt worden, daß eine erschreckend große Anzahl Mädchen und Frauen "besserer" Familien, solche, bei denen von Erwerb oder Nebenverdienst ganz abgesehen werden kann, einem geheimen und außerehelichem Geschlechtsverkehr zugänglich ist. Und zwar sind dies nicht etwa Frauen und Mädchen, die auf irgend eine Art von modernen oder emanzipierten Ideen "infiziert" worden sind. Es sind Frauen und Mädchen, die ultraorthodox leben, den Sabbat halten, die Speisegesetze und alle anderen rituellen Vorschriften mit der größten Ängstlichkeit befolgen und dennoch in sittlicher Beziehung absolut haltlos sind.

Dieser Widerspruch ist nur dadurch zu erklären, daß die Formen wertlos werden, sobald ihr geistiger Inhalt verloren gegangen ist, daß das Festhalten an leeren Formen direkt zur Lüge und Heuchelei führt. Bedauerlicherweise hat dieser Widerspruch häufig die Annahme gebracht, daß es in der jüdischen Gesetzesauslegung Stellen gäbe, die zu einer leichtfertigen Auffassung des Geschlechtsverkehrs verleiten können. Demgegenüber ist nur energisch zu betonen, daß die jüdische Gesetzgebung in der Halacha sowohl wie in der Kabala jeden Geschlechtsverkehr, der nicht der Fortpflanzung dient, aufs strengste verdammt. Da seit Jahrtausenden unter den Juden die Frau nur als Geschlechtswesen

öffentlichen Häuser ist sehr groß, und daß Inhaber und Inwohner meist Juden resp. Jüdinnen sind, ist bekannt. Es gehört natürlich nicht in den Rahmen meines Berichtes, über den Einfluß der Bordelle und das System der Reglementierung zu sprechen: doch war es mir interessant, konstatieren zu können, daß die Föderationsidee anfängt, auch in Galizien Anhänger zu gewinnen. Man mag persönlich zu derselben stehen wie man will, jede Kampfesweise ist zu begrüßen, die es sich zur Aufgabe stellt, von irgend einem Punkte aus die Volkskrankheit in Ursache und Wirkung anzugreifen und dadurch beginnt, die Volkskraft vor Verfall zu bewahren.

Für Galizien ist aber eines klar: weder die Bordelle noch der Mädchenhandel werden im stande sein, einen so korrumpierenden Einfluß auf die Bevölkerung auszuüben, wie die durch das ganze Land verbreitete und das Land verseuchende geheime Prostitution. Für die Beurteilung der Sachlage ist von größter Wichtigkeit, daß es nicht nur Not und Verführung sind, die die Mädchen zum Verkauf ihres Körpers drängen. Es ist mir wiederholt, und besonders von medizinischer Seite gesagt worden, daß eine erschreckend große Anzahl Mädchen und Frauen „besserer“ Familien, solche, bei denen von Erwerb oder Nebenverdienst ganz abgesehen werden kann, einem geheimen und außerehelichem Geschlechtsverkehr zugänglich ist. Und zwar sind dies nicht etwa Frauen und Mädchen, die auf irgend eine Art von modernen oder emanzipierten Ideen „infiziert“ worden sind. Es sind Frauen und Mädchen, die ultraorthodox leben, den Sabbat halten, die Speisegesetze und alle anderen rituellen Vorschriften mit der größten Ängstlichkeit befolgen und dennoch in sittlicher Beziehung absolut haltlos sind.

Dieser Widerspruch ist nur dadurch zu erklären, daß die Formen wertlos werden, sobald ihr geistiger Inhalt verloren gegangen ist, daß das Festhalten an leeren Formen direkt zur Lüge und Heuchelei führt. Bedauerlicherweise hat dieser Widerspruch häufig die Annahme gebracht, daß es in der jüdischen Gesetzesauslegung Stellen gäbe, die zu einer leichtfertigen Auffassung des Geschlechtsverkehrs verleiten können. Demgegenüber ist nur energisch zu betonen, daß die jüdische Gesetzgebung in der Halacha sowohl wie in der Kabala jeden Geschlechtsverkehr, der nicht der Fortpflanzung dient, aufs strengste verdammt. Da seit Jahrtausenden unter den Juden die Frau nur als Geschlechtswesen

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[46/0046] öffentlichen Häuser ist sehr groß, und daß Inhaber und Inwohner meist Juden resp. Jüdinnen sind, ist bekannt. Es gehört natürlich nicht in den Rahmen meines Berichtes, über den Einfluß der Bordelle und das System der Reglementierung zu sprechen: doch war es mir interessant, konstatieren zu können, daß die Föderationsidee anfängt, auch in Galizien Anhänger zu gewinnen. Man mag persönlich zu derselben stehen wie man will, jede Kampfesweise ist zu begrüßen, die es sich zur Aufgabe stellt, von irgend einem Punkte aus die Volkskrankheit in Ursache und Wirkung anzugreifen und dadurch beginnt, die Volkskraft vor Verfall zu bewahren. Für Galizien ist aber eines klar: weder die Bordelle noch der Mädchenhandel werden im stande sein, einen so korrumpierenden Einfluß auf die Bevölkerung auszuüben, wie die durch das ganze Land verbreitete und das Land verseuchende geheime Prostitution. Für die Beurteilung der Sachlage ist von größter Wichtigkeit, daß es nicht nur Not und Verführung sind, die die Mädchen zum Verkauf ihres Körpers drängen. Es ist mir wiederholt, und besonders von medizinischer Seite gesagt worden, daß eine erschreckend große Anzahl Mädchen und Frauen „besserer“ Familien, solche, bei denen von Erwerb oder Nebenverdienst ganz abgesehen werden kann, einem geheimen und außerehelichem Geschlechtsverkehr zugänglich ist. Und zwar sind dies nicht etwa Frauen und Mädchen, die auf irgend eine Art von modernen oder emanzipierten Ideen „infiziert“ worden sind. Es sind Frauen und Mädchen, die ultraorthodox leben, den Sabbat halten, die Speisegesetze und alle anderen rituellen Vorschriften mit der größten Ängstlichkeit befolgen und dennoch in sittlicher Beziehung absolut haltlos sind. Dieser Widerspruch ist nur dadurch zu erklären, daß die Formen wertlos werden, sobald ihr geistiger Inhalt verloren gegangen ist, daß das Festhalten an leeren Formen direkt zur Lüge und Heuchelei führt. Bedauerlicherweise hat dieser Widerspruch häufig die Annahme gebracht, daß es in der jüdischen Gesetzesauslegung Stellen gäbe, die zu einer leichtfertigen Auffassung des Geschlechtsverkehrs verleiten können. Demgegenüber ist nur energisch zu betonen, daß die jüdische Gesetzgebung in der Halacha sowohl wie in der Kabala jeden Geschlechtsverkehr, der nicht der Fortpflanzung dient, aufs strengste verdammt. Da seit Jahrtausenden unter den Juden die Frau nur als Geschlechtswesen

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/46>, abgerufen am 28.04.2024.