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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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Verhältnisse, dessen Reiz sehr bald nicht mehr entbehrt werden kann, zu einem zweiten und zu allen folgenden Vergehungen ist, hängt oftmals nur von äußeren Umständen ab.

Einmal ist es die Angst vor den Eltern oder den Dienstgebern, ein andermal die Erwartung eines unehelichen Kindes, Verlassen sein oder gekränktes Ehrgefühl, und in vielen Fällen die Unmöglichkeit, allein Mittel und Kraft zu finden, die beschrittene Bahn wieder zu verlassen, die von der geheimen zur öffentlichen Prostitution - dann an einem andern Ort, möglichst fern der Heimat - führt.

Und diese Mädchen sind es auch, deren sich hauptsächlich der Mädchenhandel in seinen verschiedenen Formen am leichtesten bemächtigen kann.

Daß der Mädchenhandel ein im Volksbewußtsein gutgeheißener Vorgang ist, ist nicht wahr, wenn auch Fälle vorkommen können, in denen Eltern mit Kupplern im Einverständnis sind. Es wirken eben in dem unglücklichen Lande viele Ursachen zusammen, die zu Korruptionserscheinungen aller Art führen müssen.

Im "Antichambre" der Wunderrabbis, unter dem Torbogen, bei der Brothöckerin, und an anderen Stellen, die die Klatschbasen versammeln, werden Mädchenhandelgeschichten voll Schaudern erzählt. Allerdings erfolgt das Gruseln meist zu spät, und es fehlt den Leuten die Übersicht, aus solchen Geschichten das Allgemeine zu abstrahieren, und für den eigenen Gebrauch eine Nutzanwendung zu ziehen. Das Vorkommen des Mädchenhandels steht in direktem Zusammenhange mit der Auswanderung, die in Galizien unmöglich verhindert werden kann. Aus einem Lande, das seine Bewohner nicht ernährt, muß eine starke Emigration stattfinden, und die "jüdische Intelligenz", die sich der steten Bevölkerungszunahme und dem wachsenden Elende gegenüber nicht zu helfen weiß, unterstützt die "Evakuierung" des Landes.

Es ist mit Sicherheit vorauszusehen daß, trotz erschwerender Maßregeln und Gesetze seitens der durch Immigration bedrohten Länder, der Strom nach dem Westen immer größer werden muß.

Unterstützt wird die Bereitwilligkeit in der Bevölkerung, auszuwandern, durch eine unerhörte Leichtgläubigkeit die den gewissenlosen Agenten ihr Werben ermöglicht, und durch die absolute Unwissenheit des Volkes. So fehlen den Leuten alle geographischen

Verhältnisse, dessen Reiz sehr bald nicht mehr entbehrt werden kann, zu einem zweiten und zu allen folgenden Vergehungen ist, hängt oftmals nur von äußeren Umständen ab.

Einmal ist es die Angst vor den Eltern oder den Dienstgebern, ein andermal die Erwartung eines unehelichen Kindes, Verlassen sein oder gekränktes Ehrgefühl, und in vielen Fällen die Unmöglichkeit, allein Mittel und Kraft zu finden, die beschrittene Bahn wieder zu verlassen, die von der geheimen zur öffentlichen Prostitution – dann an einem andern Ort, möglichst fern der Heimat – führt.

Und diese Mädchen sind es auch, deren sich hauptsächlich der Mädchenhandel in seinen verschiedenen Formen am leichtesten bemächtigen kann.

Daß der Mädchenhandel ein im Volksbewußtsein gutgeheißener Vorgang ist, ist nicht wahr, wenn auch Fälle vorkommen können, in denen Eltern mit Kupplern im Einverständnis sind. Es wirken eben in dem unglücklichen Lande viele Ursachen zusammen, die zu Korruptionserscheinungen aller Art führen müssen.

Im „Antichambre“ der Wunderrabbis, unter dem Torbogen, bei der Brothöckerin, und an anderen Stellen, die die Klatschbasen versammeln, werden Mädchenhandelgeschichten voll Schaudern erzählt. Allerdings erfolgt das Gruseln meist zu spät, und es fehlt den Leuten die Übersicht, aus solchen Geschichten das Allgemeine zu abstrahieren, und für den eigenen Gebrauch eine Nutzanwendung zu ziehen. Das Vorkommen des Mädchenhandels steht in direktem Zusammenhange mit der Auswanderung, die in Galizien unmöglich verhindert werden kann. Aus einem Lande, das seine Bewohner nicht ernährt, muß eine starke Emigration stattfinden, und die „jüdische Intelligenz“, die sich der steten Bevölkerungszunahme und dem wachsenden Elende gegenüber nicht zu helfen weiß, unterstützt die „Evakuierung“ des Landes.

Es ist mit Sicherheit vorauszusehen daß, trotz erschwerender Maßregeln und Gesetze seitens der durch Immigration bedrohten Länder, der Strom nach dem Westen immer größer werden muß.

Unterstützt wird die Bereitwilligkeit in der Bevölkerung, auszuwandern, durch eine unerhörte Leichtgläubigkeit die den gewissenlosen Agenten ihr Werben ermöglicht, und durch die absolute Unwissenheit des Volkes. So fehlen den Leuten alle geographischen

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[49/0049] Verhältnisse, dessen Reiz sehr bald nicht mehr entbehrt werden kann, zu einem zweiten und zu allen folgenden Vergehungen ist, hängt oftmals nur von äußeren Umständen ab. Einmal ist es die Angst vor den Eltern oder den Dienstgebern, ein andermal die Erwartung eines unehelichen Kindes, Verlassen sein oder gekränktes Ehrgefühl, und in vielen Fällen die Unmöglichkeit, allein Mittel und Kraft zu finden, die beschrittene Bahn wieder zu verlassen, die von der geheimen zur öffentlichen Prostitution – dann an einem andern Ort, möglichst fern der Heimat – führt. Und diese Mädchen sind es auch, deren sich hauptsächlich der Mädchenhandel in seinen verschiedenen Formen am leichtesten bemächtigen kann. Daß der Mädchenhandel ein im Volksbewußtsein gutgeheißener Vorgang ist, ist nicht wahr, wenn auch Fälle vorkommen können, in denen Eltern mit Kupplern im Einverständnis sind. Es wirken eben in dem unglücklichen Lande viele Ursachen zusammen, die zu Korruptionserscheinungen aller Art führen müssen. Im „Antichambre“ der Wunderrabbis, unter dem Torbogen, bei der Brothöckerin, und an anderen Stellen, die die Klatschbasen versammeln, werden Mädchenhandelgeschichten voll Schaudern erzählt. Allerdings erfolgt das Gruseln meist zu spät, und es fehlt den Leuten die Übersicht, aus solchen Geschichten das Allgemeine zu abstrahieren, und für den eigenen Gebrauch eine Nutzanwendung zu ziehen. Das Vorkommen des Mädchenhandels steht in direktem Zusammenhange mit der Auswanderung, die in Galizien unmöglich verhindert werden kann. Aus einem Lande, das seine Bewohner nicht ernährt, muß eine starke Emigration stattfinden, und die „jüdische Intelligenz“, die sich der steten Bevölkerungszunahme und dem wachsenden Elende gegenüber nicht zu helfen weiß, unterstützt die „Evakuierung“ des Landes. Es ist mit Sicherheit vorauszusehen daß, trotz erschwerender Maßregeln und Gesetze seitens der durch Immigration bedrohten Länder, der Strom nach dem Westen immer größer werden muß. Unterstützt wird die Bereitwilligkeit in der Bevölkerung, auszuwandern, durch eine unerhörte Leichtgläubigkeit die den gewissenlosen Agenten ihr Werben ermöglicht, und durch die absolute Unwissenheit des Volkes. So fehlen den Leuten alle geographischen

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/49>, abgerufen am 28.04.2024.