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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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Die Idee der Mustercheder, die in Rußland schon seit einigen Jahren populär geworden ist, wurde in Galizien erst von zionistischer Seite angeregt. In den Städten, die wir aufgesucht haben, haben wir nur in Rzeszow einen Reformcheder gesehen.

Es sind dort 40 bis 50 Kinder untergebracht, die einen systematisch geregelten Unterricht erhalten, nach Klassen in freundlichen hellen Schulräumen eingeteilt werden, Gesangunterricht erhalten und im ganzen einen frischen, munteren Eindruck machen. Allein da der Leiter des Reformcheders diese Schule zu Erwerbszwecken unterhält und auf einen Verdienst angewiesen ist, ist das Schulgeld ziemlich hoch. Der Besuch des Mustercheders ist daher nur den Vermögenden möglich. Damit diese Schule auch den armen Juden zugänglich werde, würde sie entschieden eine Subvention verdienen. Die Verbreitung solcher Mustercheder kann von der wohltätigsten Wirkung auf das ganze Chederwesen Galiziens sein. Immer mehr Knaben würden dadurch dem Cheder entzogen, während die Privatcheders sich den Mustercheders anzupassen versuchen müßten.

Von Mustercheders können ganze Kommissionen ausgehen, die die Kontrolle über alle Privatcheder zu führen hätten. Dies geschieht auch mit großem Erfolg manchenorts in Rußland.

Einen konkreten Ausgangspunkt für die Reform des Chederwesens können die Talmud-Thoras bilden, die der direkten Aufsicht der jüdischen Gemeinden Galiziens unterstellt sind. Leider sind diese Talmud-Thoras in der Regel noch schlimmer als die Privatcheders bestellt. Während der Mustercheder den Privatcheder in seiner zweiten Funktion ersetzt, kann er nicht zugleich auch seine dritte Funktion übernehmen, nämlich die der Unterbringung der Kinder im Laufe des Tages.

Der Mustercheder beschränkt die Schulstunden, und die Mutter, die ihre Söhne hinschickt, hat nicht die Beruhigung, ihr Kind von früh morgens bis spät abends versorgt zu wissen.

Diese Beruhigung der Mutter zu geben ist nicht und kann nicht Sache der Schule sein. Die Schule, so hohe, erzieherische Aufgaben sie auch hat, kann nicht die Familie ersetzen. Dies geschieht in Volkskrippen, Volkskindergärten und Kinderhorten.

Von jüdischen Volkskrippen hat Galizien keine Ahnung, dagegen gibt es in Lemberg drei jüdische Kindergärten, die jüdische

Die Idee der Mustercheder, die in Rußland schon seit einigen Jahren populär geworden ist, wurde in Galizien erst von zionistischer Seite angeregt. In den Städten, die wir aufgesucht haben, haben wir nur in Rzeszow einen Reformcheder gesehen.

Es sind dort 40 bis 50 Kinder untergebracht, die einen systematisch geregelten Unterricht erhalten, nach Klassen in freundlichen hellen Schulräumen eingeteilt werden, Gesangunterricht erhalten und im ganzen einen frischen, munteren Eindruck machen. Allein da der Leiter des Reformcheders diese Schule zu Erwerbszwecken unterhält und auf einen Verdienst angewiesen ist, ist das Schulgeld ziemlich hoch. Der Besuch des Mustercheders ist daher nur den Vermögenden möglich. Damit diese Schule auch den armen Juden zugänglich werde, würde sie entschieden eine Subvention verdienen. Die Verbreitung solcher Mustercheder kann von der wohltätigsten Wirkung auf das ganze Chederwesen Galiziens sein. Immer mehr Knaben würden dadurch dem Cheder entzogen, während die Privatcheders sich den Mustercheders anzupassen versuchen müßten.

Von Mustercheders können ganze Kommissionen ausgehen, die die Kontrolle über alle Privatcheder zu führen hätten. Dies geschieht auch mit großem Erfolg manchenorts in Rußland.

Einen konkreten Ausgangspunkt für die Reform des Chederwesens können die Talmud-Thoras bilden, die der direkten Aufsicht der jüdischen Gemeinden Galiziens unterstellt sind. Leider sind diese Talmud-Thoras in der Regel noch schlimmer als die Privatcheders bestellt. Während der Mustercheder den Privatcheder in seiner zweiten Funktion ersetzt, kann er nicht zugleich auch seine dritte Funktion übernehmen, nämlich die der Unterbringung der Kinder im Laufe des Tages.

Der Mustercheder beschränkt die Schulstunden, und die Mutter, die ihre Söhne hinschickt, hat nicht die Beruhigung, ihr Kind von früh morgens bis spät abends versorgt zu wissen.

Diese Beruhigung der Mutter zu geben ist nicht und kann nicht Sache der Schule sein. Die Schule, so hohe, erzieherische Aufgaben sie auch hat, kann nicht die Familie ersetzen. Dies geschieht in Volkskrippen, Volkskindergärten und Kinderhorten.

Von jüdischen Volkskrippen hat Galizien keine Ahnung, dagegen gibt es in Lemberg drei jüdische Kindergärten, die jüdische

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[87/0087] Die Idee der Mustercheder, die in Rußland schon seit einigen Jahren populär geworden ist, wurde in Galizien erst von zionistischer Seite angeregt. In den Städten, die wir aufgesucht haben, haben wir nur in Rzeszow einen Reformcheder gesehen. Es sind dort 40 bis 50 Kinder untergebracht, die einen systematisch geregelten Unterricht erhalten, nach Klassen in freundlichen hellen Schulräumen eingeteilt werden, Gesangunterricht erhalten und im ganzen einen frischen, munteren Eindruck machen. Allein da der Leiter des Reformcheders diese Schule zu Erwerbszwecken unterhält und auf einen Verdienst angewiesen ist, ist das Schulgeld ziemlich hoch. Der Besuch des Mustercheders ist daher nur den Vermögenden möglich. Damit diese Schule auch den armen Juden zugänglich werde, würde sie entschieden eine Subvention verdienen. Die Verbreitung solcher Mustercheder kann von der wohltätigsten Wirkung auf das ganze Chederwesen Galiziens sein. Immer mehr Knaben würden dadurch dem Cheder entzogen, während die Privatcheders sich den Mustercheders anzupassen versuchen müßten. Von Mustercheders können ganze Kommissionen ausgehen, die die Kontrolle über alle Privatcheder zu führen hätten. Dies geschieht auch mit großem Erfolg manchenorts in Rußland. Einen konkreten Ausgangspunkt für die Reform des Chederwesens können die Talmud-Thoras bilden, die der direkten Aufsicht der jüdischen Gemeinden Galiziens unterstellt sind. Leider sind diese Talmud-Thoras in der Regel noch schlimmer als die Privatcheders bestellt. Während der Mustercheder den Privatcheder in seiner zweiten Funktion ersetzt, kann er nicht zugleich auch seine dritte Funktion übernehmen, nämlich die der Unterbringung der Kinder im Laufe des Tages. Der Mustercheder beschränkt die Schulstunden, und die Mutter, die ihre Söhne hinschickt, hat nicht die Beruhigung, ihr Kind von früh morgens bis spät abends versorgt zu wissen. Diese Beruhigung der Mutter zu geben ist nicht und kann nicht Sache der Schule sein. Die Schule, so hohe, erzieherische Aufgaben sie auch hat, kann nicht die Familie ersetzen. Dies geschieht in Volkskrippen, Volkskindergärten und Kinderhorten. Von jüdischen Volkskrippen hat Galizien keine Ahnung, dagegen gibt es in Lemberg drei jüdische Kindergärten, die jüdische

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/87>, abgerufen am 15.05.2024.