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Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871].

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Westfalus est sine pietate, sine pudore, sine constantia, sine veritate. Nach andrer Leseart heißt es am Ende sine vere-, und dann wird supplirt sine verecundia.

Bei einer andern ähnlichen Gelegenheit zeigte der Grosvater sich viel milder. Einer unseres Kreises, vermuthlich der Bücherwurm Paul hatte herausgefunden, es existire von dem Superintendenten Mittelstädt eine Schrift: Biblischer Beweis, daß Christus von Westfälingern gekreuzigt sei. Dies wurde eines Mittags beim Grosvater mit vieler Vorsicht erwähnt; wir wußten es so einzurichten, daß einer der älteren Tischgenossen, den er nicht wohl anfahren durfte, es auf das Tapet brachte. Der Grosvater fing aber gar nicht an zu toben, wie wir erwartet, sondern äußerte sehr ruhig, er kenne nicht nur die Schrift, sondern auch den Verfasser, er wisse, daß Mittelstädt diese Broschüre zusammengestellt, um einem Bekannten (den er auch nannte) einen Possen zu spielen; er äußerte, daß er das "schnurrige Ding" gern selbst einmal wieder lesen möchte. Darauf hin gab ich mir alle erdenkliche Mühe, ein Exemplar herbeizuschaffen, zuerst in Wege des Buchhandels, aber das unbedeutende Schriftchen war längst vergriffen oder makulirt, dann machte Freund Paul die Runde bei allen Berliner Antiquaren, aber ohne Erfolg. Erst viele Jahre nach dem Tode des guten Grosvaters gelang es mir, ein Exemplar zu Gesicht zu bekommen. Es ist nicht zu läugnen, daß sich den gelehrten Ausführungen des Verfassers kaum etwas haltbares entgegensetzen läßt.

Fritzens Verhältniß zum Grosvater Eichmann wurde, nachdem die erste Scheu überwunden war, ein sehr spashaftes. Anfangs nannte der höfliche Knabe ihn nicht an-

Westfalus est sine pietate, sine pudore, sine constantia, sine veritate. Nach andrer Leseart heißt es am Ende sine vere-, und dann wird supplirt sine verecundia.

Bei einer andern ähnlichen Gelegenheit zeigte der Grosvater sich viel milder. Einer unseres Kreises, vermuthlich der Bücherwurm Paul hatte herausgefunden, es existire von dem Superintendenten Mittelstädt eine Schrift: Biblischer Beweis, daß Christus von Westfälingern gekreuzigt sei. Dies wurde eines Mittags beim Grosvater mit vieler Vorsicht erwähnt; wir wußten es so einzurichten, daß einer der älteren Tischgenossen, den er nicht wohl anfahren durfte, es auf das Tapet brachte. Der Grosvater fing aber gar nicht an zu toben, wie wir erwartet, sondern äußerte sehr ruhig, er kenne nicht nur die Schrift, sondern auch den Verfasser, er wisse, daß Mittelstädt diese Broschüre zusammengestellt, um einem Bekannten (den er auch nannte) einen Possen zu spielen; er äußerte, daß er das „schnurrige Ding“ gern selbst einmal wieder lesen möchte. Darauf hin gab ich mir alle erdenkliche Mühe, ein Exemplar herbeizuschaffen, zuerst in Wege des Buchhandels, aber das unbedeutende Schriftchen war längst vergriffen oder makulirt, dann machte Freund Paul die Runde bei allen Berliner Antiquaren, aber ohne Erfolg. Erst viele Jahre nach dem Tode des guten Grosvaters gelang es mir, ein Exemplar zu Gesicht zu bekommen. Es ist nicht zu läugnen, daß sich den gelehrten Ausführungen des Verfassers kaum etwas haltbares entgegensetzen läßt.

Fritzens Verhältniß zum Grosvater Eichmann wurde, nachdem die erste Scheu überwunden war, ein sehr spashaftes. Anfangs nannte der höfliche Knabe ihn nicht an-

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[232/0244] Westfalus est sine pietate, sine pudore, sine constantia, sine veritate. Nach andrer Leseart heißt es am Ende sine vere-, und dann wird supplirt sine verecundia. Bei einer andern ähnlichen Gelegenheit zeigte der Grosvater sich viel milder. Einer unseres Kreises, vermuthlich der Bücherwurm Paul hatte herausgefunden, es existire von dem Superintendenten Mittelstädt eine Schrift: Biblischer Beweis, daß Christus von Westfälingern gekreuzigt sei. Dies wurde eines Mittags beim Grosvater mit vieler Vorsicht erwähnt; wir wußten es so einzurichten, daß einer der älteren Tischgenossen, den er nicht wohl anfahren durfte, es auf das Tapet brachte. Der Grosvater fing aber gar nicht an zu toben, wie wir erwartet, sondern äußerte sehr ruhig, er kenne nicht nur die Schrift, sondern auch den Verfasser, er wisse, daß Mittelstädt diese Broschüre zusammengestellt, um einem Bekannten (den er auch nannte) einen Possen zu spielen; er äußerte, daß er das „schnurrige Ding“ gern selbst einmal wieder lesen möchte. Darauf hin gab ich mir alle erdenkliche Mühe, ein Exemplar herbeizuschaffen, zuerst in Wege des Buchhandels, aber das unbedeutende Schriftchen war längst vergriffen oder makulirt, dann machte Freund Paul die Runde bei allen Berliner Antiquaren, aber ohne Erfolg. Erst viele Jahre nach dem Tode des guten Grosvaters gelang es mir, ein Exemplar zu Gesicht zu bekommen. Es ist nicht zu läugnen, daß sich den gelehrten Ausführungen des Verfassers kaum etwas haltbares entgegensetzen läßt. Fritzens Verhältniß zum Grosvater Eichmann wurde, nachdem die erste Scheu überwunden war, ein sehr spashaftes. Anfangs nannte der höfliche Knabe ihn nicht an-

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Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871], S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen01_1871/244>, abgerufen am 27.04.2024.