Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].

Bild:
<< vorherige Seite

ten Zeilen. Sie besaß bei einer scharfen Beobachtungsgabe zugleich die Kunst, alle kleinen Schwächen und Eigenheiten der Freunde auf eine so gutmüthige Art zur Sprache zu bringen, daß niemand sich verletzt fühlte. Dies Talent übte sie auch diesmal, und versetzte uns alle in die heiterste Stimmung.

Für Tiedge hatte mein Vater einen besonderen Scherz bereitet. Es war gerade damals eine Reihe von kolorirten Köpfen als Kinderspiel erschienen. Drei einzelne horizontale Pappstreifen enthielten 1) Stirn und Augen, 2) Nase, 3) Mund und Kinn. Durch Verwechselung der Streifen kamen die tollsten Fratzen zum Vorschein. Zu diesem albernen Spiele ließ mein Vater einen besonderen Titel "Karakterköpfe aus Tiedges Urania" drucken, und auf den Umschlag kleben. Wir alle freuten uns auf Tiedges Gesicht beim Anblicke dieser Köpfe.

Zur Schadloshaltung erhielt er noch ein schönes neues Schreibebuch mit weißem Papier: denn mein Vater hatte bemerkt, daß das alte zerfetzte Büchlein auf seinem Tische fast ganz vollgeschrieben sei. Auf dem ersten Blatte der neuen Kladde stand:

Ich mache keine Verse,

Herr Tiedge, mach' er se!

Dies letzte Geschenk fiel Tiedgen zuerst in die Hand, und machte ihm große Freude. Auch den Titel der Karakterköpfe betrachtete er anfangs mit Wohlgefallen, und öffnete begierig das Futteral. Als er von dem absurden Inhalte Kenntniß genommen, verfinsterten sich seine ohnehin nicht freundlichen Züge, und er sagte verdrießlich zu dem daneben stehenden Herrn Ritter: es ist doch unglaublich, auf welche Albernheiten die Leute verfallen!

ten Zeilen. Sie besaß bei einer scharfen Beobachtungsgabe zugleich die Kunst, alle kleinen Schwächen und Eigenheiten der Freunde auf eine so gutmüthige Art zur Sprache zu bringen, daß niemand sich verletzt fühlte. Dies Talent übte sie auch diesmal, und versetzte uns alle in die heiterste Stimmung.

Für Tiedge hatte mein Vater einen besonderen Scherz bereitet. Es war gerade damals eine Reihe von kolorirten Köpfen als Kinderspiel erschienen. Drei einzelne horizontale Pappstreifen enthielten 1) Stirn und Augen, 2) Nase, 3) Mund und Kinn. Durch Verwechselung der Streifen kamen die tollsten Fratzen zum Vorschein. Zu diesem albernen Spiele ließ mein Vater einen besonderen Titel „Karakterköpfe aus Tiedges Urania“ drucken, und auf den Umschlag kleben. Wir alle freuten uns auf Tiedges Gesicht beim Anblicke dieser Köpfe.

Zur Schadloshaltung erhielt er noch ein schönes neues Schreibebuch mit weißem Papier: denn mein Vater hatte bemerkt, daß das alte zerfetzte Büchlein auf seinem Tische fast ganz vollgeschrieben sei. Auf dem ersten Blatte der neuen Kladde stand:

Ich mache keine Verse,

Herr Tiedge, mach’ er se!

Dies letzte Geschenk fiel Tiedgen zuerst in die Hand, und machte ihm große Freude. Auch den Titel der Karakterköpfe betrachtete er anfangs mit Wohlgefallen, und öffnete begierig das Futteral. Als er von dem absurden Inhalte Kenntniß genommen, verfinsterten sich seine ohnehin nicht freundlichen Züge, und er sagte verdrießlich zu dem daneben stehenden Herrn Ritter: es ist doch unglaublich, auf welche Albernheiten die Leute verfallen!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0025" n="17"/>
ten Zeilen. Sie besaß bei einer scharfen Beobachtungsgabe zugleich die Kunst, alle kleinen Schwächen und Eigenheiten der Freunde auf eine so gutmüthige Art zur Sprache zu bringen, daß niemand sich verletzt fühlte. Dies Talent übte sie auch diesmal, und versetzte uns alle in die heiterste Stimmung. </p><lb/>
        <p>Für Tiedge hatte mein Vater einen besonderen Scherz bereitet. Es war gerade damals eine Reihe von kolorirten Köpfen als Kinderspiel erschienen. Drei einzelne horizontale Pappstreifen enthielten 1) Stirn und Augen, 2) Nase, 3) Mund und Kinn. Durch Verwechselung der Streifen kamen die tollsten Fratzen zum Vorschein. Zu diesem albernen Spiele ließ mein Vater einen besonderen Titel &#x201E;Karakterköpfe aus Tiedges Urania&#x201C; drucken, und auf den Umschlag kleben. Wir alle freuten uns auf Tiedges Gesicht beim Anblicke dieser Köpfe. </p><lb/>
        <p>Zur Schadloshaltung erhielt er noch ein schönes neues Schreibebuch mit weißem Papier: denn mein Vater hatte bemerkt, daß das alte zerfetzte Büchlein auf seinem Tische fast ganz vollgeschrieben sei. Auf dem ersten Blatte der neuen Kladde stand: </p><lb/>
        <p>Ich mache keine Verse, </p><lb/>
        <p>Herr Tiedge, mach&#x2019; er se! </p><lb/>
        <p>Dies letzte Geschenk fiel Tiedgen zuerst in die Hand, und machte ihm große Freude. Auch den Titel der Karakterköpfe betrachtete er anfangs mit Wohlgefallen, und öffnete begierig das Futteral. Als er von dem absurden Inhalte Kenntniß genommen, verfinsterten sich seine ohnehin nicht freundlichen Züge, und er sagte verdrießlich zu dem daneben stehenden Herrn Ritter: es ist doch unglaublich, auf welche Albernheiten die Leute verfallen!
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0025] ten Zeilen. Sie besaß bei einer scharfen Beobachtungsgabe zugleich die Kunst, alle kleinen Schwächen und Eigenheiten der Freunde auf eine so gutmüthige Art zur Sprache zu bringen, daß niemand sich verletzt fühlte. Dies Talent übte sie auch diesmal, und versetzte uns alle in die heiterste Stimmung. Für Tiedge hatte mein Vater einen besonderen Scherz bereitet. Es war gerade damals eine Reihe von kolorirten Köpfen als Kinderspiel erschienen. Drei einzelne horizontale Pappstreifen enthielten 1) Stirn und Augen, 2) Nase, 3) Mund und Kinn. Durch Verwechselung der Streifen kamen die tollsten Fratzen zum Vorschein. Zu diesem albernen Spiele ließ mein Vater einen besonderen Titel „Karakterköpfe aus Tiedges Urania“ drucken, und auf den Umschlag kleben. Wir alle freuten uns auf Tiedges Gesicht beim Anblicke dieser Köpfe. Zur Schadloshaltung erhielt er noch ein schönes neues Schreibebuch mit weißem Papier: denn mein Vater hatte bemerkt, daß das alte zerfetzte Büchlein auf seinem Tische fast ganz vollgeschrieben sei. Auf dem ersten Blatte der neuen Kladde stand: Ich mache keine Verse, Herr Tiedge, mach’ er se! Dies letzte Geschenk fiel Tiedgen zuerst in die Hand, und machte ihm große Freude. Auch den Titel der Karakterköpfe betrachtete er anfangs mit Wohlgefallen, und öffnete begierig das Futteral. Als er von dem absurden Inhalte Kenntniß genommen, verfinsterten sich seine ohnehin nicht freundlichen Züge, und er sagte verdrießlich zu dem daneben stehenden Herrn Ritter: es ist doch unglaublich, auf welche Albernheiten die Leute verfallen!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wolfgang Virmond: Bereitstellung der Texttranskription. (2014-01-07T13:04:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2014-01-07T13:04:32Z)
Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Sign. Av 4887-1) (2014-01-07T13:04:32Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • Kolumnentitel: nicht übernommen
  • Kustoden: nicht übernommen
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Silbentrennung: aufgelöst
  • Zeilenumbrüche markiert: nein



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/25
Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/25>, abgerufen am 03.05.2024.