Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Reise war ganz anders als der zweite, dritte, acht¬
zigste. Denn am zweiten, dritten, achtzigsten war
er prosaisch, humoristisch, stiptisch, d. h. er hing
sich wie gehäckelter Same an jedes Menschenherz
und schlug die Wurzeln seines Glücks in jedem frem¬
den Schicksal ein. Aber am ersten Tage kamen ver¬
hüllte Geister aus alten Stunden in seine Seele,
welche verschwanden, wenn ein Dritter sprach -- ei¬
ne sanfte Trunkenheit, die ihm der Dunstkreis der
Natur wie der eines Weinlagers mittheilte, legte
sich wie eine magische Einsamkeit um seine Seele. .
Warum will ich aber den ersten Tag schildern eh'
ich ihn schildere.

In den ersten Stunden war er heute -- an der
Ouvertüre der Reise -- frisch, froh, glücklich, aber
nicht seelig; er trank noch, allein er war nicht trun¬
ken. Aber wenn er so einige Stunden mit schöpfen¬
dem Auge und saugendem Herzen gewandelt war
durch Perlenschnüre bethaueter Gewebe, durch sum¬
sende Thäler, über singende Hügel, und wenn der
blaulichte Himmel sich friedlich an die dampfenden
Höhen und an die dunkeln wie Gärtenwände über¬
einander steigender Wälder schlos; wenn die Natur
alle Röhren des Lebensstromes öfnete und wenn alle
ihre Springbrunnen aufstiegen und brennend inein¬
ander spielten von der Sonne übermahlt: dann wur¬
de Viktor, der mit einem steigenden Herzen durch

Reiſe war ganz anders als der zweite, dritte, acht¬
zigſte. Denn am zweiten, dritten, achtzigſten war
er proſaiſch, humoriſtiſch, ſtiptiſch, d. h. er hing
ſich wie gehaͤckelter Same an jedes Menſchenherz
und ſchlug die Wurzeln ſeines Gluͤcks in jedem frem¬
den Schickſal ein. Aber am erſten Tage kamen ver¬
huͤllte Geiſter aus alten Stunden in ſeine Seele,
welche verſchwanden, wenn ein Dritter ſprach — ei¬
ne ſanfte Trunkenheit, die ihm der Dunſtkreis der
Natur wie der eines Weinlagers mittheilte, legte
ſich wie eine magiſche Einſamkeit um ſeine Seele. .
Warum will ich aber den erſten Tag ſchildern eh'
ich ihn ſchildere.

In den erſten Stunden war er heute — an der
Ouvertuͤre der Reiſe — friſch, froh, gluͤcklich, aber
nicht ſeelig; er trank noch, allein er war nicht trun¬
ken. Aber wenn er ſo einige Stunden mit ſchoͤpfen¬
dem Auge und ſaugendem Herzen gewandelt war
durch Perlenſchnuͤre bethaueter Gewebe, durch ſum¬
ſende Thaͤler, uͤber ſingende Huͤgel, und wenn der
blaulichte Himmel ſich friedlich an die dampfenden
Hoͤhen und an die dunkeln wie Gaͤrtenwaͤnde uͤber¬
einander ſteigender Waͤlder ſchlos; wenn die Natur
alle Roͤhren des Lebensſtromes oͤfnete und wenn alle
ihre Springbrunnen aufſtiegen und brennend inein¬
ander ſpielten von der Sonne uͤbermahlt: dann wur¬
de Viktor, der mit einem ſteigenden Herzen durch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0227" n="216"/>
Rei&#x017F;e war ganz anders als der zweite, dritte, acht¬<lb/>
zig&#x017F;te. Denn am zweiten, dritten, achtzig&#x017F;ten war<lb/>
er pro&#x017F;ai&#x017F;ch, humori&#x017F;ti&#x017F;ch, &#x017F;tipti&#x017F;ch, d. h. er hing<lb/>
&#x017F;ich wie geha&#x0364;ckelter Same an jedes Men&#x017F;chenherz<lb/>
und &#x017F;chlug die Wurzeln &#x017F;eines Glu&#x0364;cks in jedem frem¬<lb/>
den Schick&#x017F;al ein. Aber am er&#x017F;ten Tage kamen ver¬<lb/>
hu&#x0364;llte Gei&#x017F;ter aus alten Stunden in &#x017F;eine Seele,<lb/>
welche ver&#x017F;chwanden, wenn ein Dritter &#x017F;prach &#x2014; ei¬<lb/>
ne &#x017F;anfte Trunkenheit, die ihm der Dun&#x017F;tkreis der<lb/>
Natur wie der eines Weinlagers mittheilte, legte<lb/>
&#x017F;ich wie eine magi&#x017F;che Ein&#x017F;amkeit um &#x017F;eine Seele. .<lb/>
Warum will ich aber den er&#x017F;ten Tag &#x017F;childern eh'<lb/>
ich ihn &#x017F;childere.</p><lb/>
        <p>In den er&#x017F;ten Stunden war er heute &#x2014; an der<lb/>
Ouvertu&#x0364;re der Rei&#x017F;e &#x2014; fri&#x017F;ch, froh, glu&#x0364;cklich, aber<lb/>
nicht &#x017F;eelig; er trank noch, allein er war nicht trun¬<lb/>
ken. Aber wenn er &#x017F;o einige Stunden mit &#x017F;cho&#x0364;pfen¬<lb/>
dem Auge und &#x017F;augendem Herzen gewandelt war<lb/>
durch Perlen&#x017F;chnu&#x0364;re bethaueter Gewebe, durch &#x017F;um¬<lb/>
&#x017F;ende Tha&#x0364;ler, u&#x0364;ber &#x017F;ingende Hu&#x0364;gel, und wenn der<lb/>
blaulichte Himmel &#x017F;ich friedlich an die dampfenden<lb/>
Ho&#x0364;hen und an die dunkeln wie Ga&#x0364;rtenwa&#x0364;nde u&#x0364;ber¬<lb/>
einander &#x017F;teigender Wa&#x0364;lder &#x017F;chlos; wenn die Natur<lb/>
alle Ro&#x0364;hren des Lebens&#x017F;tromes o&#x0364;fnete und wenn alle<lb/>
ihre Springbrunnen auf&#x017F;tiegen und brennend inein¬<lb/>
ander &#x017F;pielten von der Sonne u&#x0364;bermahlt: dann wur¬<lb/>
de Viktor, der mit einem &#x017F;teigenden Herzen durch<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[216/0227] Reiſe war ganz anders als der zweite, dritte, acht¬ zigſte. Denn am zweiten, dritten, achtzigſten war er proſaiſch, humoriſtiſch, ſtiptiſch, d. h. er hing ſich wie gehaͤckelter Same an jedes Menſchenherz und ſchlug die Wurzeln ſeines Gluͤcks in jedem frem¬ den Schickſal ein. Aber am erſten Tage kamen ver¬ huͤllte Geiſter aus alten Stunden in ſeine Seele, welche verſchwanden, wenn ein Dritter ſprach — ei¬ ne ſanfte Trunkenheit, die ihm der Dunſtkreis der Natur wie der eines Weinlagers mittheilte, legte ſich wie eine magiſche Einſamkeit um ſeine Seele. . Warum will ich aber den erſten Tag ſchildern eh' ich ihn ſchildere. In den erſten Stunden war er heute — an der Ouvertuͤre der Reiſe — friſch, froh, gluͤcklich, aber nicht ſeelig; er trank noch, allein er war nicht trun¬ ken. Aber wenn er ſo einige Stunden mit ſchoͤpfen¬ dem Auge und ſaugendem Herzen gewandelt war durch Perlenſchnuͤre bethaueter Gewebe, durch ſum¬ ſende Thaͤler, uͤber ſingende Huͤgel, und wenn der blaulichte Himmel ſich friedlich an die dampfenden Hoͤhen und an die dunkeln wie Gaͤrtenwaͤnde uͤber¬ einander ſteigender Waͤlder ſchlos; wenn die Natur alle Roͤhren des Lebensſtromes oͤfnete und wenn alle ihre Springbrunnen aufſtiegen und brennend inein¬ ander ſpielten von der Sonne uͤbermahlt: dann wur¬ de Viktor, der mit einem ſteigenden Herzen durch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/227
Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/227>, abgerufen am 12.05.2024.