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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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die Sonne: Gustav rief: "Gott steht dort" und
stürzte mit geblendetem Auge und Geiste und mit
dem größten Gebet, das noch ein kindlicher 10jäh¬
riger Busen faßte, auf die Blumen hin . . . . .

Schlage die Augen nur wieder auf, du Lieber!
du siehest nicht mehr in die glühende Lavakugel hin¬
ein; du liegst an der beschattenden Brust deiner
Mutter, und ihr liebendes Herz darin ist deine
Sonne und dein Gott -- zum erstenmal sehe das
unnennbar holde, weibliche und mütterliche Lächeln,
zum erstenmale höre die elterliche Stimme; denn
die ersten zwei Seligen, die im Himmel dir entge¬
gen gehen, sind deine Eltern. O himmlische Sze¬
ne! die Sonne strahlt, alle Thautropfen fun¬
keln unter ihr, acht Freudenthränen fallen mit
dem milderen Sonnenbilde nieder, und vier Men¬
schen stehen selig und gerührt auf einer Erde, die
so weit vom Himmel liegt! Verhülltes Schicksal!
wird unser Tod seyn wie Gustavs seiner? Verhüll¬
tes Schicksal! das hinter unsrer Erde wie hinter
einer Larve sitzet und das uns Zeit lässet, zu seyn
-- ach! wenn der Tod uns zerleget und ein großer
Genius uns aus der Gruft in den Himmel gehoben
hat, wenn dann seine Sonnen und Freuden unsere

die Sonne: Guſtav rief: „Gott ſteht dort“ und
ſtuͤrzte mit geblendetem Auge und Geiſte und mit
dem groͤßten Gebet, das noch ein kindlicher 10jaͤh¬
riger Buſen faßte, auf die Blumen hin . . . . .

Schlage die Augen nur wieder auf, du Lieber!
du ſieheſt nicht mehr in die gluͤhende Lavakugel hin¬
ein; du liegſt an der beſchattenden Bruſt deiner
Mutter, und ihr liebendes Herz darin iſt deine
Sonne und dein Gott — zum erſtenmal ſehe das
unnennbar holde, weibliche und muͤtterliche Laͤcheln,
zum erſtenmale hoͤre die elterliche Stimme; denn
die erſten zwei Seligen, die im Himmel dir entge¬
gen gehen, ſind deine Eltern. O himmliſche Sze¬
ne! die Sonne ſtrahlt, alle Thautropfen fun¬
keln unter ihr, acht Freudenthraͤnen fallen mit
dem milderen Sonnenbilde nieder, und vier Men¬
ſchen ſtehen ſelig und geruͤhrt auf einer Erde, die
ſo weit vom Himmel liegt! Verhuͤlltes Schickſal!
wird unſer Tod ſeyn wie Guſtavs ſeiner? Verhuͤll¬
tes Schickſal! das hinter unſrer Erde wie hinter
einer Larve ſitzet und das uns Zeit laͤſſet, zu ſeyn
— ach! wenn der Tod uns zerleget und ein großer
Genius uns aus der Gruft in den Himmel gehoben
hat, wenn dann ſeine Sonnen und Freuden unſere

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[60/0096] die Sonne: Guſtav rief: „Gott ſteht dort“ und ſtuͤrzte mit geblendetem Auge und Geiſte und mit dem groͤßten Gebet, das noch ein kindlicher 10jaͤh¬ riger Buſen faßte, auf die Blumen hin . . . . . Schlage die Augen nur wieder auf, du Lieber! du ſieheſt nicht mehr in die gluͤhende Lavakugel hin¬ ein; du liegſt an der beſchattenden Bruſt deiner Mutter, und ihr liebendes Herz darin iſt deine Sonne und dein Gott — zum erſtenmal ſehe das unnennbar holde, weibliche und muͤtterliche Laͤcheln, zum erſtenmale hoͤre die elterliche Stimme; denn die erſten zwei Seligen, die im Himmel dir entge¬ gen gehen, ſind deine Eltern. O himmliſche Sze¬ ne! die Sonne ſtrahlt, alle Thautropfen fun¬ keln unter ihr, acht Freudenthraͤnen fallen mit dem milderen Sonnenbilde nieder, und vier Men¬ ſchen ſtehen ſelig und geruͤhrt auf einer Erde, die ſo weit vom Himmel liegt! Verhuͤlltes Schickſal! wird unſer Tod ſeyn wie Guſtavs ſeiner? Verhuͤll¬ tes Schickſal! das hinter unſrer Erde wie hinter einer Larve ſitzet und das uns Zeit laͤſſet, zu ſeyn — ach! wenn der Tod uns zerleget und ein großer Genius uns aus der Gruft in den Himmel gehoben hat, wenn dann ſeine Sonnen und Freuden unſere

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/96>, abgerufen am 29.04.2024.