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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

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Hand -- ich schlug immer wenigere Töne an, die
um mich wie ein ziehender Strudel giengen -- end¬
lich legt' ich das Koralbuch auf einen tiefen Ton
und zog die Bälge in einem fort, um nicht den stum¬
men Zwischenraum zwischen den Tönen auszustehen
-- ein summender Ton strömte fort, wie wenn er
hinter den Flügeln der Zeit hergienge, er trug alle
meine Erinnerungen und Hofnungen und in seinen
Wellen schwamm mein schlagendes Herz. . . Von
jeher machte ein fortbebender Ton mich traurig.

Ich verließ meine Auferstehungsstätte und sah
nach der weißen Pyramide des Eremitenberges, wo
nichts auferstand und wo das Leben fester schlief, die
Pyramide stand im Mondschimmer getaucht und mit
mir gieng ein langer Wolkenschatten. Blätter und
Bäume krümmte der Herbst; über die stachlichten
Wiesenstoppeln wiegte sich die Blume nicht mehr,
die im Maule des Viehs vergieng; die Schnecke sarg¬
te sich in ihr Haus und Bett mit Geifer ein; und
als am Morgen sich die Erde mit vollgebluteten flek¬
kigen Wolken gegen die matte Sonne drehte:
so fühlt' ich, daß ich meine vorige frohe Erde nicht
mehr hatte, sondern daß ich sie auf immer in der
Gruft gelassen, und die Menschen, die ich wieder

Hand — ich ſchlug immer wenigere Toͤne an, die
um mich wie ein ziehender Strudel giengen — end¬
lich legt' ich das Koralbuch auf einen tiefen Ton
und zog die Baͤlge in einem fort, um nicht den ſtum¬
men Zwiſchenraum zwiſchen den Toͤnen auszuſtehen
— ein ſummender Ton ſtroͤmte fort, wie wenn er
hinter den Fluͤgeln der Zeit hergienge, er trug alle
meine Erinnerungen und Hofnungen und in ſeinen
Wellen ſchwamm mein ſchlagendes Herz. . . Von
jeher machte ein fortbebender Ton mich traurig.

Ich verließ meine Auferſtehungsſtaͤtte und ſah
nach der weißen Pyramide des Eremitenberges, wo
nichts auferſtand und wo das Leben feſter ſchlief, die
Pyramide ſtand im Mondſchimmer getaucht und mit
mir gieng ein langer Wolkenſchatten. Blaͤtter und
Baͤume kruͤmmte der Herbſt; uͤber die ſtachlichten
Wieſenſtoppeln wiegte ſich die Blume nicht mehr,
die im Maule des Viehs vergieng; die Schnecke ſarg¬
te ſich in ihr Haus und Bett mit Geifer ein; und
als am Morgen ſich die Erde mit vollgebluteten flek¬
kigen Wolken gegen die matte Sonne drehte:
ſo fuͤhlt' ich, daß ich meine vorige frohe Erde nicht
mehr hatte, ſondern daß ich ſie auf immer in der
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[143/0153] Hand — ich ſchlug immer wenigere Toͤne an, die um mich wie ein ziehender Strudel giengen — end¬ lich legt' ich das Koralbuch auf einen tiefen Ton und zog die Baͤlge in einem fort, um nicht den ſtum¬ men Zwiſchenraum zwiſchen den Toͤnen auszuſtehen — ein ſummender Ton ſtroͤmte fort, wie wenn er hinter den Fluͤgeln der Zeit hergienge, er trug alle meine Erinnerungen und Hofnungen und in ſeinen Wellen ſchwamm mein ſchlagendes Herz. . . Von jeher machte ein fortbebender Ton mich traurig. Ich verließ meine Auferſtehungsſtaͤtte und ſah nach der weißen Pyramide des Eremitenberges, wo nichts auferſtand und wo das Leben feſter ſchlief, die Pyramide ſtand im Mondſchimmer getaucht und mit mir gieng ein langer Wolkenſchatten. Blaͤtter und Baͤume kruͤmmte der Herbſt; uͤber die ſtachlichten Wieſenſtoppeln wiegte ſich die Blume nicht mehr, die im Maule des Viehs vergieng; die Schnecke ſarg¬ te ſich in ihr Haus und Bett mit Geifer ein; und als am Morgen ſich die Erde mit vollgebluteten flek¬ kigen Wolken gegen die matte Sonne drehte: ſo fuͤhlt' ich, daß ich meine vorige frohe Erde nicht mehr hatte, ſondern daß ich ſie auf immer in der Gruft gelaſſen, und die Menſchen, die ich wieder

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/153>, abgerufen am 28.04.2024.