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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

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jede Tiefe deckten glimmende Wolken zu, über uns
gieng der blaue Himmelszirkel immer weiter aus¬
einander, bis endlich die Erde dem Himmel seinen
zitternden Schleier abnahm und ihm froh ins gros¬
se ewige Angesicht schauete -- das zusammengeleg¬
te Weißzeug des Himmels (wie meine Schwester
sagte) flatterte noch an den Bäumen, und die Ne¬
belflocken verhiengen noch Blüten und wogten als
Blonden um Blumen -- endlich war die Landschaft
mit den glimmenden Goldkörnern des Thaues be¬
sprengt und die Fluren waren wie mit vergrößer¬
ten Schmetterlingsflügeln überlegt. Eine gereinig¬
te hebende Maienluft kühlte mit Eis den Trank
der Lunge, die Sonne sah fröhlich auf unsern fun¬
kelnden Frühling nieder und schaute und glänzte in
alle Thaukügelchen wie Gott in alle Seelen . . . .
o wenn ich heute an diesem Morgen, wo uns alles
zu umfassen schien und wo wir alles zu umfassen
suchten, mir nicht antworten konnte, da ich mich
fragte, "war je deine Tugend so rein wie dein
Vergnügen und für welche Stunden will dich diese
belohnen:" so kann ich jetzt noch weniger antwor¬
ten, da ich sehe, daß der Mensch seine Freuden,
aber nicht seine Verdienste durch die Erinnerung er¬

jede Tiefe deckten glimmende Wolken zu, uͤber uns
gieng der blaue Himmelszirkel immer weiter aus¬
einander, bis endlich die Erde dem Himmel ſeinen
zitternden Schleier abnahm und ihm froh ins groſ¬
ſe ewige Angeſicht ſchauete — das zuſammengeleg¬
te Weißzeug des Himmels (wie meine Schweſter
ſagte) flatterte noch an den Baͤumen, und die Ne¬
belflocken verhiengen noch Bluͤten und wogten als
Blonden um Blumen — endlich war die Landſchaft
mit den glimmenden Goldkoͤrnern des Thaues be¬
ſprengt und die Fluren waren wie mit vergroͤßer¬
ten Schmetterlingsfluͤgeln uͤberlegt. Eine gereinig¬
te hebende Maienluft kuͤhlte mit Eis den Trank
der Lunge, die Sonne ſah froͤhlich auf unſern fun¬
kelnden Fruͤhling nieder und ſchaute und glaͤnzte in
alle Thaukuͤgelchen wie Gott in alle Seelen . . . .
o wenn ich heute an dieſem Morgen, wo uns alles
zu umfaſſen ſchien und wo wir alles zu umfaſſen
ſuchten, mir nicht antworten konnte, da ich mich
fragte, „war je deine Tugend ſo rein wie dein
Vergnuͤgen und fuͤr welche Stunden will dich dieſe
belohnen:“ ſo kann ich jetzt noch weniger antwor¬
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aber nicht ſeine Verdienſte durch die Erinnerung er¬

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[283/0293] jede Tiefe deckten glimmende Wolken zu, uͤber uns gieng der blaue Himmelszirkel immer weiter aus¬ einander, bis endlich die Erde dem Himmel ſeinen zitternden Schleier abnahm und ihm froh ins groſ¬ ſe ewige Angeſicht ſchauete — das zuſammengeleg¬ te Weißzeug des Himmels (wie meine Schweſter ſagte) flatterte noch an den Baͤumen, und die Ne¬ belflocken verhiengen noch Bluͤten und wogten als Blonden um Blumen — endlich war die Landſchaft mit den glimmenden Goldkoͤrnern des Thaues be¬ ſprengt und die Fluren waren wie mit vergroͤßer¬ ten Schmetterlingsfluͤgeln uͤberlegt. Eine gereinig¬ te hebende Maienluft kuͤhlte mit Eis den Trank der Lunge, die Sonne ſah froͤhlich auf unſern fun¬ kelnden Fruͤhling nieder und ſchaute und glaͤnzte in alle Thaukuͤgelchen wie Gott in alle Seelen . . . . o wenn ich heute an dieſem Morgen, wo uns alles zu umfaſſen ſchien und wo wir alles zu umfaſſen ſuchten, mir nicht antworten konnte, da ich mich fragte, „war je deine Tugend ſo rein wie dein Vergnuͤgen und fuͤr welche Stunden will dich dieſe belohnen:“ ſo kann ich jetzt noch weniger antwor¬ ten, da ich ſehe, daß der Menſch ſeine Freuden, aber nicht ſeine Verdienſte durch die Erinnerung er¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/293>, abgerufen am 26.04.2024.