Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite

Taumelnd vom Schlangenhauch der Angst
fieng die irre Natur zu singen an, aber lauter
Anfänge. "Freude, schöner Götterfunken." --
"Ich bin ein deutsches Mädchen" -- sie lief
herum und sang wieder: "Kennst du das Land."
-- "Du böser Geist!" --

Jetzt bäumte sich die damit geschmeichelte
Riesenschlange auf ihren kalten Ringen mit zü¬
ckender Zunge in die Höhe, um hinzuschiessen
und zu umflechten: "mon coeur (sagte die Schlan¬
ge, die immer in der Leidenschaft französisch
sprach,) vole sur cette bouche qui enchante tous
les sens
." -- "Mutter! (rief sie) -- Karoline! --
O Gott, lasse mich sehen, O Gott meine Au¬
gen." -- Da gab der Allliebende sie ihr wie¬
der; die Quaal der Natur, die lauten Anstal¬
ten des Begräbnisses öffneten der Scheinleiche
wieder das Auge.

Wie behend entflog sie aus der Marter¬
kammer! Das getäuschte Raubthier rechnete
auf Blindheit und Verirrung fort. Aber da
Bouverot sah, daß sie leicht die Treppe zum
welschen Dache hinaufstürze: so schickte er bloß

Taumelnd vom Schlangenhauch der Angſt
fieng die irre Natur zu ſingen an, aber lauter
Anfänge. „Freude, ſchöner Götterfunken.“ —
„Ich bin ein deutſches Mädchen“ — ſie lief
herum und ſang wieder: „Kennſt du das Land.“
— „Du böſer Geiſt!“ —

Jetzt bäumte ſich die damit geſchmeichelte
Rieſenſchlange auf ihren kalten Ringen mit zü¬
ckender Zunge in die Höhe, um hinzuſchieſſen
und zu umflechten: „mon coeur (ſagte die Schlan¬
ge, die immer in der Leidenſchaft franzöſiſch
ſprach,) vole sur cette bouche qui enchante tous
les sens
.“ — „Mutter! (rief ſie) — Karoline! —
O Gott, laſſe mich ſehen, O Gott meine Au¬
gen.“ — Da gab der Allliebende ſie ihr wie¬
der; die Quaal der Natur, die lauten Anſtal¬
ten des Begräbniſſes öffneten der Scheinleiche
wieder das Auge.

Wie behend entflog ſie aus der Marter¬
kammer! Das getäuſchte Raubthier rechnete
auf Blindheit und Verirrung fort. Aber da
Bouverot ſah, daß ſie leicht die Treppe zum
welſchen Dache hinaufſtürze: ſo ſchickte er bloß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0260" n="248"/>
          <p>Taumelnd vom Schlangenhauch der Ang&#x017F;t<lb/>
fieng die irre Natur zu &#x017F;ingen an, aber lauter<lb/>
Anfänge. &#x201E;Freude, &#x017F;chöner Götterfunken.&#x201C; &#x2014;<lb/>
&#x201E;Ich bin ein deut&#x017F;ches Mädchen&#x201C; &#x2014; &#x017F;ie lief<lb/>
herum und &#x017F;ang wieder: &#x201E;Kenn&#x017F;t du das Land.&#x201C;<lb/>
&#x2014; &#x201E;Du bö&#x017F;er Gei&#x017F;t!&#x201C; &#x2014;</p><lb/>
          <p>Jetzt bäumte &#x017F;ich die damit ge&#x017F;chmeichelte<lb/>
Rie&#x017F;en&#x017F;chlange auf ihren kalten Ringen mit zü¬<lb/>
ckender Zunge in die Höhe, um hinzu&#x017F;chie&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und zu umflechten: &#x201E;<hi rendition="#aq">mon coeur</hi> (&#x017F;agte die Schlan¬<lb/>
ge, die immer in der Leiden&#x017F;chaft franzö&#x017F;i&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;prach,) <hi rendition="#aq">vole sur cette bouche qui enchante tous<lb/>
les sens</hi>.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Mutter! (rief &#x017F;ie) &#x2014; Karoline! &#x2014;<lb/>
O Gott, la&#x017F;&#x017F;e mich &#x017F;ehen, O Gott meine Au¬<lb/>
gen.&#x201C; &#x2014; Da gab der Allliebende &#x017F;ie ihr wie¬<lb/>
der; die Quaal der Natur, die lauten An&#x017F;tal¬<lb/>
ten des Begräbni&#x017F;&#x017F;es öffneten der Scheinleiche<lb/>
wieder das Auge.</p><lb/>
          <p>Wie behend entflog &#x017F;ie aus der Marter¬<lb/>
kammer! Das getäu&#x017F;chte Raubthier rechnete<lb/>
auf Blindheit und Verirrung fort. Aber da<lb/>
Bouverot &#x017F;ah, daß &#x017F;ie leicht die Treppe zum<lb/>
wel&#x017F;chen Dache hinauf&#x017F;türze: &#x017F;o &#x017F;chickte er bloß<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[248/0260] Taumelnd vom Schlangenhauch der Angſt fieng die irre Natur zu ſingen an, aber lauter Anfänge. „Freude, ſchöner Götterfunken.“ — „Ich bin ein deutſches Mädchen“ — ſie lief herum und ſang wieder: „Kennſt du das Land.“ — „Du böſer Geiſt!“ — Jetzt bäumte ſich die damit geſchmeichelte Rieſenſchlange auf ihren kalten Ringen mit zü¬ ckender Zunge in die Höhe, um hinzuſchieſſen und zu umflechten: „mon coeur (ſagte die Schlan¬ ge, die immer in der Leidenſchaft franzöſiſch ſprach,) vole sur cette bouche qui enchante tous les sens.“ — „Mutter! (rief ſie) — Karoline! — O Gott, laſſe mich ſehen, O Gott meine Au¬ gen.“ — Da gab der Allliebende ſie ihr wie¬ der; die Quaal der Natur, die lauten Anſtal¬ ten des Begräbniſſes öffneten der Scheinleiche wieder das Auge. Wie behend entflog ſie aus der Marter¬ kammer! Das getäuſchte Raubthier rechnete auf Blindheit und Verirrung fort. Aber da Bouverot ſah, daß ſie leicht die Treppe zum welſchen Dache hinaufſtürze: ſo ſchickte er bloß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/260
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/260>, abgerufen am 15.05.2024.