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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802.

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Eben so wenig fand er für sich oder
für ein Blatt eine Treppe zu ihr. Sogar
der Hauptmann war seit einigen Tagen
nach Haarhaar verreiset. Mit müden Hän¬
den hielt er den schweren, ausgetrunknen
Freudenbecher, der leer am schwersten wiegt. --
Die wilden Hypothesen, welche der Mensch in
einem solchen Falle durch sich traben lässet --
wie in diesem, z. B. die von Lianens Krank¬
heit, Erkältung, Gefängniß, Abreise -- sind in
ihrem Wechsel und Werthe mit Nichts zu ver¬
gleichen als mit der eben so großen Wildheit
und Zahl der Plane, die er anwirbt und ab¬
dankt, z. B. den der Entführung, des Hasses,
der Duelle, der Verzweiflung.

Die harte, feststehende Zeit hatte keinen
Zeiger auf ihrem Zifferblatte. Er stand seinem
Schicksal so nahe wie der Mensch seinen Träu¬
men; ohne daß er beider Gestalt erkennen oder
vorbereiten kann. Er gieng oft in die Stadt,
deren sämmtliche Gassen durchritten, durch¬
laufen und durchfahren wurden, weil man die
Balken zum herrlichsten Throngerüste zusam¬
mentragen und nageln wollte, auf welchen sich

Eben ſo wenig fand er für ſich oder
für ein Blatt eine Treppe zu ihr. Sogar
der Hauptmann war ſeit einigen Tagen
nach Haarhaar verreiſet. Mit müden Hän¬
den hielt er den ſchweren, ausgetrunknen
Freudenbecher, der leer am ſchwerſten wiegt. —
Die wilden Hypotheſen, welche der Menſch in
einem ſolchen Falle durch ſich traben läſſet —
wie in dieſem, z. B. die von Lianens Krank¬
heit, Erkältung, Gefängniß, Abreiſe — ſind in
ihrem Wechſel und Werthe mit Nichts zu ver¬
gleichen als mit der eben ſo großen Wildheit
und Zahl der Plane, die er anwirbt und ab¬
dankt, z. B. den der Entführung, des Haſſes,
der Duelle, der Verzweiflung.

Die harte, feſtſtehende Zeit hatte keinen
Zeiger auf ihrem Zifferblatte. Er ſtand ſeinem
Schickſal ſo nahe wie der Menſch ſeinen Träu¬
men; ohne daß er beider Geſtalt erkennen oder
vorbereiten kann. Er gieng oft in die Stadt,
deren ſämmtliche Gaſſen durchritten, durch¬
laufen und durchfahren wurden, weil man die
Balken zum herrlichſten Throngerüſte zuſam¬
mentragen und nageln wollte, auf welchen ſich

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[84/0096] Eben ſo wenig fand er für ſich oder für ein Blatt eine Treppe zu ihr. Sogar der Hauptmann war ſeit einigen Tagen nach Haarhaar verreiſet. Mit müden Hän¬ den hielt er den ſchweren, ausgetrunknen Freudenbecher, der leer am ſchwerſten wiegt. — Die wilden Hypotheſen, welche der Menſch in einem ſolchen Falle durch ſich traben läſſet — wie in dieſem, z. B. die von Lianens Krank¬ heit, Erkältung, Gefängniß, Abreiſe — ſind in ihrem Wechſel und Werthe mit Nichts zu ver¬ gleichen als mit der eben ſo großen Wildheit und Zahl der Plane, die er anwirbt und ab¬ dankt, z. B. den der Entführung, des Haſſes, der Duelle, der Verzweiflung. Die harte, feſtſtehende Zeit hatte keinen Zeiger auf ihrem Zifferblatte. Er ſtand ſeinem Schickſal ſo nahe wie der Menſch ſeinen Träu¬ men; ohne daß er beider Geſtalt erkennen oder vorbereiten kann. Er gieng oft in die Stadt, deren ſämmtliche Gaſſen durchritten, durch¬ laufen und durchfahren wurden, weil man die Balken zum herrlichſten Throngerüſte zuſam¬ mentragen und nageln wollte, auf welchen ſich

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/96>, abgerufen am 29.04.2024.