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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

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er konnte nicht bleiben: "gehe morgen nicht
(sagt' er) in den Trauerspieler, ich flehe Dich,
das Ende, hör' ich, ist zu erschütternd."

"Ich liebe ohnehin dergleichen nie. O blei¬
be, bleibe länger, ich seh Dich ja morgen wie¬
der nicht." Er preßte sie an sich -- deckte ihre
Augen mit seinem Angesicht zu -- das Gorgo¬
nenhaupt des Mondes wurde schon in den Mor¬
gen heraufgehoben -- er ließ das Leben los,
wenn er sie entließ -- und doch zehrte jedes
gestammelte Wort der Liebe an der kurzen Zeit.
Der Sturm arbeitete in den gerissenen Bäu¬
men und die Flötentöne schlüpften wie Schmet¬
terlinge, wie schuldlose Kinder unter dem gros¬
sen Flügel weg. Roquairol, wie betäubt von
solcher Gegenwart, war nahe daran zu sagen:
sieh 'mich an, ich bin Roquairol; aber der
Gedanke stellte sich schnell dazwischen: "das
verdient sie nicht um Dich; nein, sie erfahr' es
erst in der Zeit, wo man den Menschen alles
vergiebt." -- Noch einmal heftig hielt er sie
an sich gedrückt, das Mondlicht fiel schon auf
beide herein, er wiederholte tausend Worte der
Liebe und Scheidung, stieß sie zurück, fuhr

er konnte nicht bleiben: „gehe morgen nicht
(ſagt' er) in den Trauerſpieler, ich flehe Dich,
das Ende, hör' ich, iſt zu erſchütternd.“

„Ich liebe ohnehin dergleichen nie. O blei¬
be, bleibe länger, ich ſeh Dich ja morgen wie¬
der nicht.“ Er preßte ſie an ſich — deckte ihre
Augen mit ſeinem Angeſicht zu — das Gorgo¬
nenhaupt des Mondes wurde ſchon in den Mor¬
gen heraufgehoben — er ließ das Leben los,
wenn er ſie entließ — und doch zehrte jedes
geſtammelte Wort der Liebe an der kurzen Zeit.
Der Sturm arbeitete in den geriſſenen Bäu¬
men und die Flötentöne ſchlüpften wie Schmet¬
terlinge, wie ſchuldloſe Kinder unter dem gros¬
ſen Flügel weg. Roquairol, wie betäubt von
ſolcher Gegenwart, war nahe daran zu ſagen:
ſieh 'mich an, ich bin Roquairol; aber der
Gedanke ſtellte ſich ſchnell dazwiſchen: „das
verdient ſie nicht um Dich; nein, ſie erfahr' es
erſt in der Zeit, wo man den Menſchen alles
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[379/0391] er konnte nicht bleiben: „gehe morgen nicht (ſagt' er) in den Trauerſpieler, ich flehe Dich, das Ende, hör' ich, iſt zu erſchütternd.“ „Ich liebe ohnehin dergleichen nie. O blei¬ be, bleibe länger, ich ſeh Dich ja morgen wie¬ der nicht.“ Er preßte ſie an ſich — deckte ihre Augen mit ſeinem Angeſicht zu — das Gorgo¬ nenhaupt des Mondes wurde ſchon in den Mor¬ gen heraufgehoben — er ließ das Leben los, wenn er ſie entließ — und doch zehrte jedes geſtammelte Wort der Liebe an der kurzen Zeit. Der Sturm arbeitete in den geriſſenen Bäu¬ men und die Flötentöne ſchlüpften wie Schmet¬ terlinge, wie ſchuldloſe Kinder unter dem gros¬ ſen Flügel weg. Roquairol, wie betäubt von ſolcher Gegenwart, war nahe daran zu ſagen: ſieh 'mich an, ich bin Roquairol; aber der Gedanke ſtellte ſich ſchnell dazwiſchen: „das verdient ſie nicht um Dich; nein, ſie erfahr' es erſt in der Zeit, wo man den Menſchen alles vergiebt.“ — Noch einmal heftig hielt er ſie an ſich gedrückt, das Mondlicht fiel ſchon auf beide herein, er wiederholte tauſend Worte der Liebe und Scheidung, ſtieß ſie zurück, fuhr

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/391>, abgerufen am 04.05.2024.