Gaspard am Morgen abgereiset. "Hat Schop¬ pe beide durch Wahrheit fortgetrieben?" fragt' er sich verlassen und allein. Vergeblich spürte er Schoppen mehrere Tage nach; nicht einmal gesehen war er worden. "Auch Du, lieber Schoppe!" sagt' er und schauderte über die Grausamkeit des Schicksals gegen sich. Als er so über sich und die stille dunkle Wüste sei¬ nes Lebens hinsah: so war ihm auf einmal, als würde sein Leben plötzlich erleuchtet und ein Sonnenblick fiele auf den ganzen Wasserspie¬ gel der verflossenen dunkeln Zeit; es sprach in ihm: "was ist denn da gewesen? Menschen -- Träume -- blaue Tage -- schwarze Nächte -- Ohne mich hergeflogen, ohne mich fortgeflogen, wie fliegender Sommer, den die Menschenhand weder spinnen noch befestigen kann. Was ist da geblieben? Ein weites Weh über das ganze Herz -- aber das Herz auch -- Es ist freilich leer, aber fest -- unzerrüttet -- heiß -- Die Geliebten sind verlohren, nicht die Liebe, die Blüthen sind herunter, nicht die Zweige -- Ich will ja noch, wünsche noch, die Vergangenheit hat mir die Zukunft nicht gestohlen -- Noch
Gaſpard am Morgen abgereiſet. „Hat Schop¬ pe beide durch Wahrheit fortgetrieben?“ fragt' er ſich verlaſſen und allein. Vergeblich ſpürte er Schoppen mehrere Tage nach; nicht einmal geſehen war er worden. „Auch Du, lieber Schoppe!“ ſagt' er und ſchauderte über die Grauſamkeit des Schickſals gegen ſich. Als er ſo über ſich und die ſtille dunkle Wüſte ſei¬ nes Lebens hinſah: ſo war ihm auf einmal, als würde ſein Leben plötzlich erleuchtet und ein Sonnenblick fiele auf den ganzen Waſſerſpie¬ gel der verfloſſenen dunkeln Zeit; es ſprach in ihm: „was iſt denn da geweſen? Menſchen — Träume — blaue Tage — ſchwarze Nächte — Ohne mich hergeflogen, ohne mich fortgeflogen, wie fliegender Sommer, den die Menſchenhand weder ſpinnen noch befeſtigen kann. Was iſt da geblieben? Ein weites Weh über das ganze Herz — aber das Herz auch — Es iſt freilich leer, aber feſt — unzerrüttet — heiß — Die Geliebten ſind verlohren, nicht die Liebe, die Blüthen ſind herunter, nicht die Zweige — Ich will ja noch, wünſche noch, die Vergangenheit hat mir die Zukunft nicht geſtohlen — Noch
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Gaſpard am Morgen abgereiſet. „Hat Schop¬
pe beide durch Wahrheit fortgetrieben?“ fragt'
er ſich verlaſſen und allein. Vergeblich ſpürte
er Schoppen mehrere Tage nach; nicht einmal
geſehen war er worden. „Auch Du, lieber
Schoppe!“ ſagt' er und ſchauderte über die
Grauſamkeit des Schickſals gegen ſich. Als er
ſo über ſich und die ſtille dunkle Wüſte ſei¬
nes Lebens hinſah: ſo war ihm auf einmal,
als würde ſein Leben plötzlich erleuchtet und ein
Sonnenblick fiele auf den ganzen Waſſerſpie¬
gel der verfloſſenen dunkeln Zeit; es ſprach in
ihm: „was iſt denn da geweſen? Menſchen —
Träume — blaue Tage — ſchwarze Nächte —
Ohne mich hergeflogen, ohne mich fortgeflogen,
wie fliegender Sommer, den die Menſchenhand
weder ſpinnen noch befeſtigen kann. Was iſt
da geblieben? Ein weites Weh über das ganze
Herz — aber das Herz auch — Es iſt freilich
leer, aber feſt — unzerrüttet — heiß — Die
Geliebten ſind verlohren, nicht die Liebe, die
Blüthen ſind herunter, nicht die Zweige — Ich
will ja noch, wünſche noch, die Vergangenheit
hat mir die Zukunft nicht geſtohlen — Noch
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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/452>, abgerufen am 29.04.2024.
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