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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

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er die Thüre öffnete, mit den Nachklängen der
Kindertage entgegen.

Eine weibliche lange schwarzgekleidete Ge¬
stalt mit einem seitwärts herabgehenden Schleier,
welche mit seinem Pflegevater sprach, wandte
sich um nach ihm, da er eintrat. Es war Idoine,
aber der alte Zauberschein fuhr wieder über
seine heute so bewegte Seele, als wenn es Liane
aus dem Himmel sey, mit Unsterblichkeit gerü¬
stet, auf überirdische Kräfte stolzer und kühner,
nichts von der vorigen Erde mehr tragend als
die Güte und den Reiz. Beide fanden sich mit
gegenseitigem Erstaunen hier wieder. Julienne
sah -- ihrer kleinen Verhehlungen und Anstal¬
ten sich bewußt -- ein rothes Wölkchen des Un¬
willens über Idoinens mildes Gesicht fliegen;
es war aber bald unter dem Horizont, sobald
Idoine es bemerkte, daß die Schwester unter
dem Leichengeläute des Bruders die Thränen
nicht bezwingen konnte, und sie gieng ihr freund¬
lich entgegen, ihre Hand aufsuchend. Idoine
hatte, durch ihre Strenge leicht zum launischen
Zürnen, diesem kleinen Kriege des Zorns, ge¬
neigt, sich durch scharfe lange Übung von die¬

er die Thüre öffnete, mit den Nachklängen der
Kindertage entgegen.

Eine weibliche lange ſchwarzgekleidete Ge¬
ſtalt mit einem ſeitwärts herabgehenden Schleier,
welche mit ſeinem Pflegevater ſprach, wandte
ſich um nach ihm, da er eintrat. Es war Idoine,
aber der alte Zauberſchein fuhr wieder über
ſeine heute ſo bewegte Seele, als wenn es Liane
aus dem Himmel ſey, mit Unſterblichkeit gerü¬
ſtet, auf überirdiſche Kräfte ſtolzer und kühner,
nichts von der vorigen Erde mehr tragend als
die Güte und den Reiz. Beide fanden ſich mit
gegenſeitigem Erſtaunen hier wieder. Julienne
ſah — ihrer kleinen Verhehlungen und Anſtal¬
ten ſich bewußt — ein rothes Wölkchen des Un¬
willens über Idoinens mildes Geſicht fliegen;
es war aber bald unter dem Horizont, ſobald
Idoine es bemerkte, daß die Schweſter unter
dem Leichengeläute des Bruders die Thränen
nicht bezwingen konnte, und ſie gieng ihr freund¬
lich entgegen, ihre Hand aufſuchend. Idoine
hatte, durch ihre Strenge leicht zum launiſchen
Zürnen, dieſem kleinen Kriege des Zorns, ge¬
neigt, ſich durch ſcharfe lange Übung von die¬

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[557/0569] er die Thüre öffnete, mit den Nachklängen der Kindertage entgegen. Eine weibliche lange ſchwarzgekleidete Ge¬ ſtalt mit einem ſeitwärts herabgehenden Schleier, welche mit ſeinem Pflegevater ſprach, wandte ſich um nach ihm, da er eintrat. Es war Idoine, aber der alte Zauberſchein fuhr wieder über ſeine heute ſo bewegte Seele, als wenn es Liane aus dem Himmel ſey, mit Unſterblichkeit gerü¬ ſtet, auf überirdiſche Kräfte ſtolzer und kühner, nichts von der vorigen Erde mehr tragend als die Güte und den Reiz. Beide fanden ſich mit gegenſeitigem Erſtaunen hier wieder. Julienne ſah — ihrer kleinen Verhehlungen und Anſtal¬ ten ſich bewußt — ein rothes Wölkchen des Un¬ willens über Idoinens mildes Geſicht fliegen; es war aber bald unter dem Horizont, ſobald Idoine es bemerkte, daß die Schweſter unter dem Leichengeläute des Bruders die Thränen nicht bezwingen konnte, und ſie gieng ihr freund¬ lich entgegen, ihre Hand aufſuchend. Idoine hatte, durch ihre Strenge leicht zum launiſchen Zürnen, dieſem kleinen Kriege des Zorns, ge¬ neigt, ſich durch ſcharfe lange Übung von die¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 557. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/569>, abgerufen am 29.04.2024.