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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

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Ja, sagt die Mutter! sieht ihn ernsthaft und
wehmüthig an. Was Gutes kann dieser bringen?
Was sagst du? willst du mich trösten, und allein
leiden? Er hat dir gedrohet!

Rudi. Nein, weiß Gott, Mutter! er hat
mir angesagt, ich sey Taglöhner beym Kirchbau;
und der Junker zahle einem des Tags 25 Kreuzer.

Die Mutter. Herr Gott! ist das auch wahr?

Rudi. Ja gewiß, Mutter! und es ist da
mehr als für ein ganzes Jahr Arbeit.

Die Mutter. Nun ich sterbe leichter, Rudi!
Du bist gut, mein lieber Gott. Sey doch bis an
ihr Ende ihr guter Gott! Und Rudi, glaub's doch
ewig vest:

Je grösser Noth,
Je näher Gott.

Sie schwieg jezt eine Weile; dann sagte sie
wieder:

Ich glaube, es sey mit mir aus -- Mein Athem
nimmt alle Augenblicke ab -- Wir müssen scheiden,
Rudi, ich will Abschied nehmen.

Der Rudi bebt, zittert, nimmt seine Kappe
ab, fällt auf seine Knie, vor dem Bette seiner
Mutter, faltet seine Hände, hebt seine Augen gen
Himmel, und kann vor Thränen und Schluch-
zen nicht reden.

Dann sagt die Mutter: Fasse Muth, Rudi!
zu hoffen auf's ewige Leben, wo wir uns wieder

sehn
G 2

Ja, ſagt die Mutter! ſieht ihn ernſthaft und
wehmuͤthig an. Was Gutes kann dieſer bringen?
Was ſagſt du? willſt du mich troͤſten, und allein
leiden? Er hat dir gedrohet!

Rudi. Nein, weiß Gott, Mutter! er hat
mir angeſagt, ich ſey Tagloͤhner beym Kirchbau;
und der Junker zahle einem des Tags 25 Kreuzer.

Die Mutter. Herr Gott! iſt das auch wahr?

Rudi. Ja gewiß, Mutter! und es iſt da
mehr als fuͤr ein ganzes Jahr Arbeit.

Die Mutter. Nun ich ſterbe leichter, Rudi!
Du biſt gut, mein lieber Gott. Sey doch bis an
ihr Ende ihr guter Gott! Und Rudi, glaub’s doch
ewig veſt:

Je groͤſſer Noth,
Je naͤher Gott.

Sie ſchwieg jezt eine Weile; dann ſagte ſie
wieder:

Ich glaube, es ſey mit mir aus — Mein Athem
nimmt alle Augenblicke ab — Wir muͤſſen ſcheiden,
Rudi, ich will Abſchied nehmen.

Der Rudi bebt, zittert, nimmt ſeine Kappe
ab, faͤllt auf ſeine Knie, vor dem Bette ſeiner
Mutter, faltet ſeine Haͤnde, hebt ſeine Augen gen
Himmel, und kann vor Thraͤnen und Schluch-
zen nicht reden.

Dann ſagt die Mutter: Faſſe Muth, Rudi!
zu hoffen auf’s ewige Leben, wo wir uns wieder

ſehn
G 2
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[99/0124] Ja, ſagt die Mutter! ſieht ihn ernſthaft und wehmuͤthig an. Was Gutes kann dieſer bringen? Was ſagſt du? willſt du mich troͤſten, und allein leiden? Er hat dir gedrohet! Rudi. Nein, weiß Gott, Mutter! er hat mir angeſagt, ich ſey Tagloͤhner beym Kirchbau; und der Junker zahle einem des Tags 25 Kreuzer. Die Mutter. Herr Gott! iſt das auch wahr? Rudi. Ja gewiß, Mutter! und es iſt da mehr als fuͤr ein ganzes Jahr Arbeit. Die Mutter. Nun ich ſterbe leichter, Rudi! Du biſt gut, mein lieber Gott. Sey doch bis an ihr Ende ihr guter Gott! Und Rudi, glaub’s doch ewig veſt: Je groͤſſer Noth, Je naͤher Gott. Sie ſchwieg jezt eine Weile; dann ſagte ſie wieder: Ich glaube, es ſey mit mir aus — Mein Athem nimmt alle Augenblicke ab — Wir muͤſſen ſcheiden, Rudi, ich will Abſchied nehmen. Der Rudi bebt, zittert, nimmt ſeine Kappe ab, faͤllt auf ſeine Knie, vor dem Bette ſeiner Mutter, faltet ſeine Haͤnde, hebt ſeine Augen gen Himmel, und kann vor Thraͤnen und Schluch- zen nicht reden. Dann ſagt die Mutter: Faſſe Muth, Rudi! zu hoffen auf’s ewige Leben, wo wir uns wieder ſehn G 2

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/124>, abgerufen am 29.04.2024.