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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

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willen, zwar nicht, daß sie es ihm verzeihe, sondern
nur, daß sie es Niemand sage.

Sie that es, und litte gedultig die Schmer-
zen einer starken Verwundung, und sagte zum
Scheerer und zu den Nachbaren, sie sey von der
Bühne gefallen; diese glaubten ihr zwar nicht alle,
und ach! die gute Frau! sie hätte es vorher denken
sollen. Kein Heuchler war je dankbar, kein Heuch-
ler hält sein Wort, sie hätte ihm also nicht glau-
ben sollen. Doch was sage ich! sie hatte das
alles wohl gewußt, aber dabey an ihre Kinder ge-
dacht, und empfunden, daß Niemand als Gott sein
Herz ändern könne, und daß also alles Gerede unter
den Leuten umsonst seyn würde; die brave Frau!
Ach! daß sie nicht glücklicher ist -- O! daß ihr Herz
alle Tage Kränkungen von ihm leiden muß.

Sie schweigt und betet zu Gott, und dankt
ihm für die Prüfungen der Leiden.

O Ewigkeit! wenn du einst enthüllest die
Wege Gottes! und den Segen der Menschen, die
Gott durch Leiden, Elend und Jammer, so in
ihrem Innern Stärke, Gedult und Weisheit leh-
ret. O Ewigkeit! wie wirst du die Geprüfte
erhöhen, die du hier so erniedriget hast!

Kriecher hatte das Loch im Kopf vergessen, fast
ehe als es wieder geheilet war, und er ist immer
der gleiche. Er kränkt und plagt die Frau ohne
Ursach und Anlaß, alle Tage, und er verbittert ihr

das

willen, zwar nicht, daß ſie es ihm verzeihe, ſondern
nur, daß ſie es Niemand ſage.

Sie that es, und litte gedultig die Schmer-
zen einer ſtarken Verwundung, und ſagte zum
Scheerer und zu den Nachbaren, ſie ſey von der
Buͤhne gefallen; dieſe glaubten ihr zwar nicht alle,
und ach! die gute Frau! ſie haͤtte es vorher denken
ſollen. Kein Heuchler war je dankbar, kein Heuch-
ler haͤlt ſein Wort, ſie haͤtte ihm alſo nicht glau-
ben ſollen. Doch was ſage ich! ſie hatte das
alles wohl gewußt, aber dabey an ihre Kinder ge-
dacht, und empfunden, daß Niemand als Gott ſein
Herz aͤndern koͤnne, und daß alſo alles Gerede unter
den Leuten umſonſt ſeyn wuͤrde; die brave Frau!
Ach! daß ſie nicht gluͤcklicher iſt — O! daß ihr Herz
alle Tage Kraͤnkungen von ihm leiden muß.

Sie ſchweigt und betet zu Gott, und dankt
ihm fuͤr die Pruͤfungen der Leiden.

O Ewigkeit! wenn du einſt enthuͤlleſt die
Wege Gottes! und den Segen der Menſchen, die
Gott durch Leiden, Elend und Jammer, ſo in
ihrem Innern Staͤrke, Gedult und Weisheit leh-
ret. O Ewigkeit! wie wirſt du die Gepruͤfte
erhoͤhen, die du hier ſo erniedriget haſt!

Kriecher hatte das Loch im Kopf vergeſſen, faſt
ehe als es wieder geheilet war, und er iſt immer
der gleiche. Er kraͤnkt und plagt die Frau ohne
Urſach und Anlaß, alle Tage, und er verbittert ihr

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[127/0152] willen, zwar nicht, daß ſie es ihm verzeihe, ſondern nur, daß ſie es Niemand ſage. Sie that es, und litte gedultig die Schmer- zen einer ſtarken Verwundung, und ſagte zum Scheerer und zu den Nachbaren, ſie ſey von der Buͤhne gefallen; dieſe glaubten ihr zwar nicht alle, und ach! die gute Frau! ſie haͤtte es vorher denken ſollen. Kein Heuchler war je dankbar, kein Heuch- ler haͤlt ſein Wort, ſie haͤtte ihm alſo nicht glau- ben ſollen. Doch was ſage ich! ſie hatte das alles wohl gewußt, aber dabey an ihre Kinder ge- dacht, und empfunden, daß Niemand als Gott ſein Herz aͤndern koͤnne, und daß alſo alles Gerede unter den Leuten umſonſt ſeyn wuͤrde; die brave Frau! Ach! daß ſie nicht gluͤcklicher iſt — O! daß ihr Herz alle Tage Kraͤnkungen von ihm leiden muß. Sie ſchweigt und betet zu Gott, und dankt ihm fuͤr die Pruͤfungen der Leiden. O Ewigkeit! wenn du einſt enthuͤlleſt die Wege Gottes! und den Segen der Menſchen, die Gott durch Leiden, Elend und Jammer, ſo in ihrem Innern Staͤrke, Gedult und Weisheit leh- ret. O Ewigkeit! wie wirſt du die Gepruͤfte erhoͤhen, die du hier ſo erniedriget haſt! Kriecher hatte das Loch im Kopf vergeſſen, faſt ehe als es wieder geheilet war, und er iſt immer der gleiche. Er kraͤnkt und plagt die Frau ohne Urſach und Anlaß, alle Tage, und er verbittert ihr das

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/152>, abgerufen am 03.05.2024.