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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

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man wisse; aber es dünkt mich, man könne am
Vielwissen auch zu schwer tragen.

Jost. Ja freylich, Nachbar! Man trägt an
allem zu schwer, was einen an etwas besserm und
nothwendigerm versäumt. Man muß alles nur wis-
sen um des Thuns willen. Und wenn man sich
darauf legt, um des Schwätzens willen viel wissen
zu wollen, so wird man gewiß nichts nütze.

Es ist mit dem Wissen und Thun, wie mit ei-
nem Handwerk. Ein Schuhmacher, z. E. muß
arbeiten, das ist seine Hauptsache; er muß aber
auch das Leder kennen und seinen Einkauf verste-
hen, das ist das Mittel, durch welches er in sei-
nem Handwerk wohl fährt, und so ist's in allem.
Ausüben und Thun ist für alle Menschen immer
die Hauptsache. Wissen und Verstehn ist das Mit-
tel, durch welches sie in ihrer Hauptsache wohl
fahren.

Aber
diese Leute interessiren, wie unser Einen, und
Augenblicke, wo sie sehr ernsthaft und, nach ih-
rer Art, sehr naiv und sehr richtig von allen Din-
gen reden und urtheilen; und man ist sehr irrig,
wenn man den liederlichen Bauer und Säufer
sich immer als einen besoffenen Trunkenbold,
ohne Verstand und ohne Theilnehmung an ern-
sten Sachen, vorstellt -- Er ist nur alsdann so be-
schaffen, wenn er wirklich zu viel getrunken hat,
und das war jezt noch nicht der Fall.
O 2

man wiſſe; aber es duͤnkt mich, man koͤnne am
Vielwiſſen auch zu ſchwer tragen.

Joſt. Ja freylich, Nachbar! Man traͤgt an
allem zu ſchwer, was einen an etwas beſſerm und
nothwendigerm verſaͤumt. Man muß alles nur wiſ-
ſen um des Thuns willen. Und wenn man ſich
darauf legt, um des Schwaͤtzens willen viel wiſſen
zu wollen, ſo wird man gewiß nichts nuͤtze.

Es iſt mit dem Wiſſen und Thun, wie mit ei-
nem Handwerk. Ein Schuhmacher, z. E. muß
arbeiten, das iſt ſeine Hauptſache; er muß aber
auch das Leder kennen und ſeinen Einkauf verſte-
hen, das iſt das Mittel, durch welches er in ſei-
nem Handwerk wohl faͤhrt, und ſo iſt’s in allem.
Ausuͤben und Thun iſt fuͤr alle Menſchen immer
die Hauptſache. Wiſſen und Verſtehn iſt das Mit-
tel, durch welches ſie in ihrer Hauptſache wohl
fahren.

Aber
dieſe Leute intereſſiren, wie unſer Einen, und
Augenblicke, wo ſie ſehr ernſthaft und, nach ih-
rer Art, ſehr naiv und ſehr richtig von allen Din-
gen reden und urtheilen; und man iſt ſehr irrig,
wenn man den liederlichen Bauer und Saͤufer
ſich immer als einen beſoffenen Trunkenbold,
ohne Verſtand und ohne Theilnehmung an ern-
ſten Sachen, vorſtellt — Er iſt nur alsdann ſo be-
ſchaffen, wenn er wirklich zu viel getrunken hat,
und das war jezt noch nicht der Fall.
O 2
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[211/0236] man wiſſe; aber es duͤnkt mich, man koͤnne am Vielwiſſen auch zu ſchwer tragen. Joſt. Ja freylich, Nachbar! Man traͤgt an allem zu ſchwer, was einen an etwas beſſerm und nothwendigerm verſaͤumt. Man muß alles nur wiſ- ſen um des Thuns willen. Und wenn man ſich darauf legt, um des Schwaͤtzens willen viel wiſſen zu wollen, ſo wird man gewiß nichts nuͤtze. Es iſt mit dem Wiſſen und Thun, wie mit ei- nem Handwerk. Ein Schuhmacher, z. E. muß arbeiten, das iſt ſeine Hauptſache; er muß aber auch das Leder kennen und ſeinen Einkauf verſte- hen, das iſt das Mittel, durch welches er in ſei- nem Handwerk wohl faͤhrt, und ſo iſt’s in allem. Ausuͤben und Thun iſt fuͤr alle Menſchen immer die Hauptſache. Wiſſen und Verſtehn iſt das Mit- tel, durch welches ſie in ihrer Hauptſache wohl fahren. Aber *) *) dieſe Leute intereſſiren, wie unſer Einen, und Augenblicke, wo ſie ſehr ernſthaft und, nach ih- rer Art, ſehr naiv und ſehr richtig von allen Din- gen reden und urtheilen; und man iſt ſehr irrig, wenn man den liederlichen Bauer und Saͤufer ſich immer als einen beſoffenen Trunkenbold, ohne Verſtand und ohne Theilnehmung an ern- ſten Sachen, vorſtellt — Er iſt nur alsdann ſo be- ſchaffen, wenn er wirklich zu viel getrunken hat, und das war jezt noch nicht der Fall. O 2

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/236>, abgerufen am 30.04.2024.