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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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"Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und, mit den Pferden ppe_226.002
der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär' ein Cherub vom ppe_226.003
Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes flaches Silbergeschirr ppe_226.004
auf dem Kopf tragend, auf welchem Flasche, Gläser und der Imbiß gestellt ppe_226.005
waren, das Mädchen die Türe und tritt ein."

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Den Unterschied zwischen prosaischer und poetischer Wortstellung ppe_226.007
hat Arno Holz in einem andern Beispiel aufzeigen wollen, nämlich ppe_226.008
an dem Gedichtanfang:

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Hinter blühenden Apfelbaumzweigen ppe_226.010
steigt der Mond auf.
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Es ist richtig, daß die logische Wortstellung "Der Mond steigt hinter ppe_226.012
blühenden Apfelbaumzweigen auf" reine Prosa wäre, wenn auch nicht ppe_226.013
dichterische. Dazu ist der Satzrhythmus zu schwerfällig. Gleichwohl ppe_226.014
bestehen daneben klassische Gedichtanfänge, die schlicht und klar ppe_226.015
mit dem Subjekt beginnen:

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Der Mond ist aufgegangen ppe_226.017
Der Mond steht hinter den Bergen.
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Und daneben kann man das bekannteste Mondlied stellen, das nur ppe_226.019
im Titel das Gestirn nennt, mit seinem eindringlichen verbalen Einsatz ppe_226.020
der Anrede:

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Füllest wieder Busch und Tal.

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Die dichterische Sprachwirkung findet nicht in der Syntax ihren ppe_226.023
Ausdruck, sondern im Rhythmus. Die Reihenfolge der Worte bildet ppe_226.024
nur eines unter den sieben Hilfsmitteln des Satzbaus, die in Hermann ppe_226.025
Pauls "Prinzipien der Sprachwissenschaft" aufgezählt werden. ppe_226.026
Der Psychologe Karl Bühler weiß in seiner Untersuchung "Vom Wesen ppe_226.027
der Syntax" diese Zahl nicht zu vermehren, aber er ergänzt die ppe_226.028
musikalische Gruppe, die aus den drei Ausdruckswerten dynamische ppe_226.029
Abstufung, Modulation der Tonhöhe und Tempo besteht, noch durch ppe_226.030
eine Fülle kleiner phonetischer Variationen, die in der Schrift nicht ppe_226.031
zum Ausdruck kommen. Jenes von Sievers zunächst als Lautmelodie ppe_226.032
und dann als Schallform bezeichnete geheimnisvolle Klangverhältnis ppe_226.033
zwischen den einzelnen Lauten, das, wie schon oben (S. 194 f.) gesagt ppe_226.034
wurde, erst aus dem Zusammenwirken von Dynamik, Melodik und ppe_226.035
Rhythmik entsteht, ist mit keiner Statistik syntaktischer Formen zu ppe_226.036
erfassen; es ist das Wortlose, das nach einem Worte Klopstocks unsichtbar ppe_226.037
wie die Götter Homers durch die Reihen der Kämpfer wandelt;

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„Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und, mit den Pferden ppe_226.002
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Es ist richtig, daß die logische Wortstellung „Der Mond steigt hinter ppe_226.012
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Füllest wieder Busch und Tal.

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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/250>, abgerufen am 26.04.2024.