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Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825.

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-- Allein gleich nothwendig war bei den Griechen ppo_381.002
der Chor in Hinsicht auf das Locale der ppo_381.003
dramatischen Darstellung.
An jenen Festen ppo_381.004
war nämlich eine Masse von Zuschauern anwesend, ppo_381.005
die oft über zwanzigtausend stieg. Kein Schauspielhaus ppo_381.006
in unserm Sinne faßte sie, und die Stimme ppo_381.007
der einzelnen Schauspieler würde zu oft verschollen ppo_381.008
seyn, wenn nicht der Chor, verbunden mit Musik ppo_381.009
und Tanz, die Handlung fortgeführt hätte. Nicht ppo_381.010
also zunächst eine ästhetische, sondern eine politische ppo_381.011
und locale Ursache, die aus dem Charakter eines ppo_381.012
Volksschauspieles und zwar bei einem republikanischen ppo_381.013
Volke hervorging, war es, was in der Tragödie ppo_381.014
der Griechen die Anwendung des Chors, der ppo_381.015
Musik und des Kothurns nöthig machte, wozu noch ppo_381.016
kam, daß die alte Tragödie keine Pause zwischen ppo_381.017
den Acten kannte, sondern der Chor den Faden der ppo_381.018
Handlung fortführte.

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Einen von der Tragödie der Griechen völlig ppo_381.020
verschiedenen Charakter trägt das Trauerspiel der ppo_381.021
Neuern. Handlung, sinnlich vollkommen und idealisirt ppo_381.022
dargestellt; eine innere Nothwendigkeit in der ppo_381.023
Verkettung und Folge der Verwickelung und Entwickelung, ppo_381.024
die durch nichts Fremdartiges unterbrochen ppo_381.025
werden darf; fortdauernde Thätigkeit aller wesentlich ppo_381.026
zum tragischen Kunstwerke nöthigen Personen, ppo_381.027
die durch keine Reflexion über sie zerstört wird, um ppo_381.028
die allmählig sich bildende ästhetische Einheit der Form ppo_381.029
in der Einbildungskraft des Anschauenden zu vollenden, ppo_381.030
und dann ihnen selbst die Reflexion darüber ppo_381.031
zu überlassen; dies ist der Charakter der neuern ppo_381.032
Tragödie. Der Chor wird nun beinahe in den meisteu ppo_381.033
Fällen das alles hindern, was man von dem ppo_381.034
modernen Trauerspiele, als einem vollendeten Kunstwerke,

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— Allein gleich nothwendig war bei den Griechen ppo_381.002
der Chor in Hinsicht auf das Locale der ppo_381.003
dramatischen Darstellung.
An jenen Festen ppo_381.004
war nämlich eine Masse von Zuschauern anwesend, ppo_381.005
die oft über zwanzigtausend stieg. Kein Schauspielhaus ppo_381.006
in unserm Sinne faßte sie, und die Stimme ppo_381.007
der einzelnen Schauspieler würde zu oft verschollen ppo_381.008
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und Tanz, die Handlung fortgeführt hätte. Nicht ppo_381.010
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und locale Ursache, die aus dem Charakter eines ppo_381.012
Volksschauspieles und zwar bei einem republikanischen ppo_381.013
Volke hervorging, war es, was in der Tragödie ppo_381.014
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Musik und des Kothurns nöthig machte, wozu noch ppo_381.016
kam, daß die alte Tragödie keine Pause zwischen ppo_381.017
den Acten kannte, sondern der Chor den Faden der ppo_381.018
Handlung fortführte.

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Einen von der Tragödie der Griechen völlig ppo_381.020
verschiedenen Charakter trägt das Trauerspiel der ppo_381.021
Neuern. Handlung, sinnlich vollkommen und idealisirt ppo_381.022
dargestellt; eine innere Nothwendigkeit in der ppo_381.023
Verkettung und Folge der Verwickelung und Entwickelung, ppo_381.024
die durch nichts Fremdartiges unterbrochen ppo_381.025
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zum tragischen Kunstwerke nöthigen Personen, ppo_381.027
die durch keine Reflexion über sie zerstört wird, um ppo_381.028
die allmählig sich bildende ästhetische Einheit der Form ppo_381.029
in der Einbildungskraft des Anschauenden zu vollenden, ppo_381.030
und dann ihnen selbst die Reflexion darüber ppo_381.031
zu überlassen; dies ist der Charakter der neuern ppo_381.032
Tragödie. Der Chor wird nun beinahe in den meisteu ppo_381.033
Fällen das alles hindern, was man von dem ppo_381.034
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Zitationshilfe: Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825/393>, abgerufen am 15.05.2024.