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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830.

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alterlichen, Tugend- und Jammervollen, Christlichen
und Zotenreißenden, Italiänisirenden und Deutsch-
thümelnden etc. Erzählungen halten, welche die Be-
dürfnisse unserer Journal- und Almanachs-Literatur
jetzt Myriadenweise hervorrufen, und von denen man
zum Theil nicht einmal mit Schiller sagen kann, daß
sich darin: "wenn sich das Laster besp .... die Tu-
gend zu Tische setze." Es kömmt hier weder zu dem
einen noch dem andern, sondern von Anfang bis zu
Ende leidet man nur an dem geistigen Pendant einer
sogenannten Ekel-Cur. Nachdem vergebens nach al-
len Seiten gezielt worden ist, brennt zuletzt das
Ganze dennoch ohne Explosion von der Pfanne, und
weit entfernt, sich zu Tisch zu setzen, bleibt der un-
glückliche Leser für lange Zeit von aller Nahrung
degoutirt. *)

*) Der Billigkeit gemäß, muß man jedoch zugeben, daß
der Ausnahmen von dieser Schilderung auch viele sind.
Wenn z. B. Göthe nicht verschmäht "einen Mann
von 40 Jahren" unter die Unmündigen zu schicken,
wenn Tiek sich unserer mit einer ganz ächten No-
velle erbarmt, L. Scheser, in seltsam sich durchkreu-
zenden Blitzen, Herz und Geist zu berühren weiß,
Kruse eine Criminal-Geschichte anmuthig macht, oder
irgend eine Therese, Friederike etc., die, sonst so un-
durchdringlichen, Geheimnisse weiblicher Herzen ent-
hüllt (der Verdienste anderer Haupterzähler, der Kürze
wegen, gar nicht einmal zu erwähnen) so sieht man
wohl, daß einige Hand-Arbeiter gar gute und vollstän-
dige Waare liefern könnten -- wenn nicht bereits die
ganze Fabrik durch das Maschinen-Wesen verdorben
wäre.
A. d. H.

alterlichen, Tugend- und Jammervollen, Chriſtlichen
und Zotenreißenden, Italiäniſirenden und Deutſch-
thümelnden ꝛc. Erzählungen halten, welche die Be-
dürfniſſe unſerer Journal- und Almanachs-Literatur
jetzt Myriadenweiſe hervorrufen, und von denen man
zum Theil nicht einmal mit Schiller ſagen kann, daß
ſich darin: „wenn ſich das Laſter beſp .... die Tu-
gend zu Tiſche ſetze.“ Es kömmt hier weder zu dem
einen noch dem andern, ſondern von Anfang bis zu
Ende leidet man nur an dem geiſtigen Pendant einer
ſogenannten Ekel-Cur. Nachdem vergebens nach al-
len Seiten gezielt worden iſt, brennt zuletzt das
Ganze dennoch ohne Exploſion von der Pfanne, und
weit entfernt, ſich zu Tiſch zu ſetzen, bleibt der un-
glückliche Leſer für lange Zeit von aller Nahrung
degoutirt. *)

*) Der Billigkeit gemäß, muß man jedoch zugeben, daß
der Ausnahmen von dieſer Schilderung auch viele ſind.
Wenn z. B. Göthe nicht verſchmäht „einen Mann
von 40 Jahren“ unter die Unmündigen zu ſchicken,
wenn Tiek ſich unſerer mit einer ganz ächten No-
velle erbarmt, L. Scheſer, in ſeltſam ſich durchkreu-
zenden Blitzen, Herz und Geiſt zu berühren weiß,
Kruſe eine Criminal-Geſchichte anmuthig macht, oder
irgend eine Thereſe, Friederike ꝛc., die, ſonſt ſo un-
durchdringlichen, Geheimniſſe weiblicher Herzen ent-
hüllt (der Verdienſte anderer Haupterzähler, der Kürze
wegen, gar nicht einmal zu erwähnen) ſo ſieht man
wohl, daß einige Hand-Arbeiter gar gute und vollſtän-
dige Waare liefern könnten — wenn nicht bereits die
ganze Fabrik durch das Maſchinen-Weſen verdorben
wäre.
A. d. H.
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[39/0063] alterlichen, Tugend- und Jammervollen, Chriſtlichen und Zotenreißenden, Italiäniſirenden und Deutſch- thümelnden ꝛc. Erzählungen halten, welche die Be- dürfniſſe unſerer Journal- und Almanachs-Literatur jetzt Myriadenweiſe hervorrufen, und von denen man zum Theil nicht einmal mit Schiller ſagen kann, daß ſich darin: „wenn ſich das Laſter beſp .... die Tu- gend zu Tiſche ſetze.“ Es kömmt hier weder zu dem einen noch dem andern, ſondern von Anfang bis zu Ende leidet man nur an dem geiſtigen Pendant einer ſogenannten Ekel-Cur. Nachdem vergebens nach al- len Seiten gezielt worden iſt, brennt zuletzt das Ganze dennoch ohne Exploſion von der Pfanne, und weit entfernt, ſich zu Tiſch zu ſetzen, bleibt der un- glückliche Leſer für lange Zeit von aller Nahrung degoutirt. *) *) Der Billigkeit gemäß, muß man jedoch zugeben, daß der Ausnahmen von dieſer Schilderung auch viele ſind. Wenn z. B. Göthe nicht verſchmäht „einen Mann von 40 Jahren“ unter die Unmündigen zu ſchicken, wenn Tiek ſich unſerer mit einer ganz ächten No- velle erbarmt, L. Scheſer, in ſeltſam ſich durchkreu- zenden Blitzen, Herz und Geiſt zu berühren weiß, Kruſe eine Criminal-Geſchichte anmuthig macht, oder irgend eine Thereſe, Friederike ꝛc., die, ſonſt ſo un- durchdringlichen, Geheimniſſe weiblicher Herzen ent- hüllt (der Verdienſte anderer Haupterzähler, der Kürze wegen, gar nicht einmal zu erwähnen) ſo ſieht man wohl, daß einige Hand-Arbeiter gar gute und vollſtän- dige Waare liefern könnten — wenn nicht bereits die ganze Fabrik durch das Maſchinen-Weſen verdorben wäre. A. d. H.

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830/63>, abgerufen am 29.04.2024.