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Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

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und eine Musik zu beurtheilen sey.
maaß, so wie es die Poesie und die Aussprache erfodert, gehörig beo-
bachtet habe, oder ob er nur, wie es viele machen, ohne Noth, will-
kührlich damit verfahren sey, und zuweilen lange Sylben in kurze, und
kurze in lange verwandelt habe: wodurch die Worte nicht nur verstüm-
melt werden, sondern auch wohl gar eine andere Bedeutung bekommen.
Diesen Fehler findet man öfters bey solchen, von welchen man es am we-
nigsten vermuthen sollte. Er entsteht entweder aus Nachläßigkeit; oder
weil dem Componisten nicht gleich, in der Eil, eine bequemere und den
Worten gemäßere Melodie hat einfallen wollen; oder weil derselbe die
Sprache nicht verstanden hat(**). Bey Beurtheilung einer Oper hat
man weiter zu beobachten: ob der Componist die Einschnitte der Rede,
in den Arien, und absonderlich in den Recitativen wohl beobachtet habe;
ob er sich bey den Versetzungen gewisser Wörter wohl gehütet habe, den
Verstand derselben zu verdunkeln, oder gar das Gegentheil davon zu sa-
gen; ob die Arien, deren Text gewisse Actionen erfodert, ausdrückend,
und so gesetzet seyn, daß die Sänger Zeit und Gelegenheit haben, ihre
Actionen mit Gemächlichkeit anzubringen; ob die Sänger aber auch
nicht in mancher Arie, die einen heftigen Affect in sich hält, entweder
durch allzugeschwindes Aussprechen der Worte, wie ehedem bey den Deut-
schen üblich war, zum Schnattern verleitet, oder durch allzulange, über
jede Sylbe gesetzete, Noten, am lebhaften Vortrage der Worte, und an
der Action gehindert werden; ob in dergleichen sprechenden Arien, die
Passagien der Singstimme, welche gar nicht dahin gehören, und das
Feuer der Action hemmen, vermieden worden. Man suche endlich zu
erforschen: ob der Componist, in Ansehung des Zusammenhanges der
ganzen Sache überhaupt, eine jede Arie an ihren rechten Ort gesetzet,
und, damit nicht etliche Arien in einerley Tone oder Tactart gleich auf
einander folgen möchten, die verschiedenen Ton- und Tactarten, den
Worten gemäß, zu vermischen gesuchet habe; ob er den Hauptcharakter
des Stückes, vom Anfange bis zum Ende unterhalten, auch eine pro-
portionirliche Länge dabey beobachtet habe; ob zuletzt die meisten Zuhö-
rer durch die Musik gerühret, und in die im Schauspiele vorgestelleten
Leidenschaften versetzet werden, so daß sie endlich, mit einer Begierde die
Oper öfters zu hören, den Schauplatz verlassen. Finden sich alle bisher
erzählten guten Eigenschaften in einer Oper beysammen: so kann eine
solche Oper für ein Meisterstück gehalten werden.

(**) Unter
(**)
O o 2

und eine Muſik zu beurtheilen ſey.
maaß, ſo wie es die Poeſie und die Ausſprache erfodert, gehoͤrig beo-
bachtet habe, oder ob er nur, wie es viele machen, ohne Noth, will-
kuͤhrlich damit verfahren ſey, und zuweilen lange Sylben in kurze, und
kurze in lange verwandelt habe: wodurch die Worte nicht nur verſtuͤm-
melt werden, ſondern auch wohl gar eine andere Bedeutung bekommen.
Dieſen Fehler findet man oͤfters bey ſolchen, von welchen man es am we-
nigſten vermuthen ſollte. Er entſteht entweder aus Nachlaͤßigkeit; oder
weil dem Componiſten nicht gleich, in der Eil, eine bequemere und den
Worten gemaͤßere Melodie hat einfallen wollen; oder weil derſelbe die
Sprache nicht verſtanden hat(**). Bey Beurtheilung einer Oper hat
man weiter zu beobachten: ob der Componiſt die Einſchnitte der Rede,
in den Arien, und abſonderlich in den Recitativen wohl beobachtet habe;
ob er ſich bey den Verſetzungen gewiſſer Woͤrter wohl gehuͤtet habe, den
Verſtand derſelben zu verdunkeln, oder gar das Gegentheil davon zu ſa-
gen; ob die Arien, deren Text gewiſſe Actionen erfodert, ausdruͤckend,
und ſo geſetzet ſeyn, daß die Saͤnger Zeit und Gelegenheit haben, ihre
Actionen mit Gemaͤchlichkeit anzubringen; ob die Saͤnger aber auch
nicht in mancher Arie, die einen heftigen Affect in ſich haͤlt, entweder
durch allzugeſchwindes Ausſprechen der Worte, wie ehedem bey den Deut-
ſchen uͤblich war, zum Schnattern verleitet, oder durch allzulange, uͤber
jede Sylbe geſetzete, Noten, am lebhaften Vortrage der Worte, und an
der Action gehindert werden; ob in dergleichen ſprechenden Arien, die
Paſſagien der Singſtimme, welche gar nicht dahin gehoͤren, und das
Feuer der Action hemmen, vermieden worden. Man ſuche endlich zu
erforſchen: ob der Componiſt, in Anſehung des Zuſammenhanges der
ganzen Sache uͤberhaupt, eine jede Arie an ihren rechten Ort geſetzet,
und, damit nicht etliche Arien in einerley Tone oder Tactart gleich auf
einander folgen moͤchten, die verſchiedenen Ton- und Tactarten, den
Worten gemaͤß, zu vermiſchen geſuchet habe; ob er den Hauptcharakter
des Stuͤckes, vom Anfange bis zum Ende unterhalten, auch eine pro-
portionirliche Laͤnge dabey beobachtet habe; ob zuletzt die meiſten Zuhoͤ-
rer durch die Muſik geruͤhret, und in die im Schauſpiele vorgeſtelleten
Leidenſchaften verſetzet werden, ſo daß ſie endlich, mit einer Begierde die
Oper oͤfters zu hoͤren, den Schauplatz verlaſſen. Finden ſich alle bisher
erzaͤhlten guten Eigenſchaften in einer Oper beyſammen: ſo kann eine
ſolche Oper fuͤr ein Meiſterſtuͤck gehalten werden.

(**) Unter
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O o 2
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[291/0309] und eine Muſik zu beurtheilen ſey. maaß, ſo wie es die Poeſie und die Ausſprache erfodert, gehoͤrig beo- bachtet habe, oder ob er nur, wie es viele machen, ohne Noth, will- kuͤhrlich damit verfahren ſey, und zuweilen lange Sylben in kurze, und kurze in lange verwandelt habe: wodurch die Worte nicht nur verſtuͤm- melt werden, ſondern auch wohl gar eine andere Bedeutung bekommen. Dieſen Fehler findet man oͤfters bey ſolchen, von welchen man es am we- nigſten vermuthen ſollte. Er entſteht entweder aus Nachlaͤßigkeit; oder weil dem Componiſten nicht gleich, in der Eil, eine bequemere und den Worten gemaͤßere Melodie hat einfallen wollen; oder weil derſelbe die Sprache nicht verſtanden hat (**). Bey Beurtheilung einer Oper hat man weiter zu beobachten: ob der Componiſt die Einſchnitte der Rede, in den Arien, und abſonderlich in den Recitativen wohl beobachtet habe; ob er ſich bey den Verſetzungen gewiſſer Woͤrter wohl gehuͤtet habe, den Verſtand derſelben zu verdunkeln, oder gar das Gegentheil davon zu ſa- gen; ob die Arien, deren Text gewiſſe Actionen erfodert, ausdruͤckend, und ſo geſetzet ſeyn, daß die Saͤnger Zeit und Gelegenheit haben, ihre Actionen mit Gemaͤchlichkeit anzubringen; ob die Saͤnger aber auch nicht in mancher Arie, die einen heftigen Affect in ſich haͤlt, entweder durch allzugeſchwindes Ausſprechen der Worte, wie ehedem bey den Deut- ſchen uͤblich war, zum Schnattern verleitet, oder durch allzulange, uͤber jede Sylbe geſetzete, Noten, am lebhaften Vortrage der Worte, und an der Action gehindert werden; ob in dergleichen ſprechenden Arien, die Paſſagien der Singſtimme, welche gar nicht dahin gehoͤren, und das Feuer der Action hemmen, vermieden worden. Man ſuche endlich zu erforſchen: ob der Componiſt, in Anſehung des Zuſammenhanges der ganzen Sache uͤberhaupt, eine jede Arie an ihren rechten Ort geſetzet, und, damit nicht etliche Arien in einerley Tone oder Tactart gleich auf einander folgen moͤchten, die verſchiedenen Ton- und Tactarten, den Worten gemaͤß, zu vermiſchen geſuchet habe; ob er den Hauptcharakter des Stuͤckes, vom Anfange bis zum Ende unterhalten, auch eine pro- portionirliche Laͤnge dabey beobachtet habe; ob zuletzt die meiſten Zuhoͤ- rer durch die Muſik geruͤhret, und in die im Schauſpiele vorgeſtelleten Leidenſchaften verſetzet werden, ſo daß ſie endlich, mit einer Begierde die Oper oͤfters zu hoͤren, den Schauplatz verlaſſen. Finden ſich alle bisher erzaͤhlten guten Eigenſchaften in einer Oper beyſammen: ſo kann eine ſolche Oper fuͤr ein Meiſterſtuͤck gehalten werden. (**) Unter (**) O o 2

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Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/309>, abgerufen am 29.04.2024.