Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

den Mehlthau der Selbstsucht: die wahre lautere Quelle
jeder Tugend, jeder wahren Aufopferung, ist die traurig
süße Vergangenheit mit ihren erloschenen Bildern, mit
ihren ganz oder halb verklungenen Thaten und Träumen.
Wer könnte ein Kind beleidigen, der daran denkt, daß
er einst selbst sich an die Mutterbrust geschmiegt, daß
ein Mutterauge auf ihn herabgelächelt hat? Die Erin-
nerung ist das Gewinde, welches die Wiege mit dem
Grabe verknüpft, und mag das dunkle stachlige Grün
des Leidens, des Irrthums, noch so vorwaltend sein;
niemals wird's hier und da an einer hervorleuchtenden
Blume fehlen, bei welcher wir verweilen und flüstern
können: "Wie lieblich und heilig ist diese Stätte!" --

Ich habe meine kleine Lampe angezündet und träume
wieder über den Blättern meiner Chronik. Wie die
ältliche freundlich-schöne Frau, die mir heute den Strauß
junger Veilchenknospen herüberbrachte, auf den Wogen
ihrer Melodien sich schaukeln läßt, kann ich ja nur auf
diese Weise festhalten. -- Ich habe bis jetzt Bilder
gezeichnet aus unserer Kinder Kinderleben, heute will
ich ein anderes farbiges Blatt malen, wie ein Zau-
berspiegel voll blühenden Lebens, voll süßen Flüsterns,
voll träumenden Sehnen's und lächelnden Träumens, --
ein einziges Blatt aus der vollen Pracht des Herzensfrüh-
lings, ein einziges Blatt aus der Zeit der jungen Liebe!

den Mehlthau der Selbſtſucht: die wahre lautere Quelle
jeder Tugend, jeder wahren Aufopferung, iſt die traurig
ſüße Vergangenheit mit ihren erloſchenen Bildern, mit
ihren ganz oder halb verklungenen Thaten und Träumen.
Wer könnte ein Kind beleidigen, der daran denkt, daß
er einſt ſelbſt ſich an die Mutterbruſt geſchmiegt, daß
ein Mutterauge auf ihn herabgelächelt hat? Die Erin-
nerung iſt das Gewinde, welches die Wiege mit dem
Grabe verknüpft, und mag das dunkle ſtachlige Grün
des Leidens, des Irrthums, noch ſo vorwaltend ſein;
niemals wird’s hier und da an einer hervorleuchtenden
Blume fehlen, bei welcher wir verweilen und flüſtern
können: „Wie lieblich und heilig iſt dieſe Stätte!“ —

Ich habe meine kleine Lampe angezündet und träume
wieder über den Blättern meiner Chronik. Wie die
ältliche freundlich-ſchöne Frau, die mir heute den Strauß
junger Veilchenknospen herüberbrachte, auf den Wogen
ihrer Melodien ſich ſchaukeln läßt, kann ich ja nur auf
dieſe Weiſe feſthalten. — Ich habe bis jetzt Bilder
gezeichnet aus unſerer Kinder Kinderleben, heute will
ich ein anderes farbiges Blatt malen, wie ein Zau-
berſpiegel voll blühenden Lebens, voll ſüßen Flüſterns,
voll träumenden Sehnen’s und lächelnden Träumens, —
ein einziges Blatt aus der vollen Pracht des Herzensfrüh-
lings, ein einziges Blatt aus der Zeit der jungen Liebe!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0238" n="228"/>
den Mehlthau der Selb&#x017F;t&#x017F;ucht: die wahre lautere Quelle<lb/>
jeder Tugend, jeder wahren Aufopferung, i&#x017F;t die traurig<lb/>
&#x017F;üße Vergangenheit mit ihren erlo&#x017F;chenen Bildern, mit<lb/>
ihren ganz oder halb verklungenen Thaten und Träumen.<lb/>
Wer könnte ein Kind beleidigen, der daran denkt, daß<lb/>
er ein&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich an die Mutterbru&#x017F;t ge&#x017F;chmiegt, daß<lb/>
ein Mutterauge auf ihn herabgelächelt hat? Die Erin-<lb/>
nerung i&#x017F;t das Gewinde, welches die Wiege mit dem<lb/>
Grabe verknüpft, und mag das dunkle &#x017F;tachlige Grün<lb/>
des Leidens, des Irrthums, noch &#x017F;o vorwaltend &#x017F;ein;<lb/>
niemals wird&#x2019;s hier und da an einer hervorleuchtenden<lb/>
Blume fehlen, bei welcher wir verweilen und flü&#x017F;tern<lb/>
können: &#x201E;Wie lieblich und heilig i&#x017F;t die&#x017F;e Stätte!&#x201C; &#x2014;</p><lb/>
        <p>Ich habe meine kleine Lampe angezündet und träume<lb/>
wieder über den Blättern meiner Chronik. Wie die<lb/>
ältliche freundlich-&#x017F;chöne Frau, die mir heute den Strauß<lb/>
junger Veilchenknospen herüberbrachte, auf den Wogen<lb/>
ihrer Melodien &#x017F;ich &#x017F;chaukeln läßt, kann ich ja nur auf<lb/>
die&#x017F;e Wei&#x017F;e fe&#x017F;thalten. &#x2014; Ich habe bis jetzt Bilder<lb/>
gezeichnet aus un&#x017F;erer Kinder Kinderleben, heute will<lb/>
ich ein anderes farbiges Blatt malen, wie ein Zau-<lb/>
ber&#x017F;piegel voll blühenden Lebens, voll &#x017F;üßen Flü&#x017F;terns,<lb/>
voll träumenden Sehnen&#x2019;s und lächelnden Träumens, &#x2014;<lb/>
ein einziges Blatt aus der vollen Pracht des Herzensfrüh-<lb/>
lings, ein einziges Blatt aus der Zeit der jungen Liebe!</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228/0238] den Mehlthau der Selbſtſucht: die wahre lautere Quelle jeder Tugend, jeder wahren Aufopferung, iſt die traurig ſüße Vergangenheit mit ihren erloſchenen Bildern, mit ihren ganz oder halb verklungenen Thaten und Träumen. Wer könnte ein Kind beleidigen, der daran denkt, daß er einſt ſelbſt ſich an die Mutterbruſt geſchmiegt, daß ein Mutterauge auf ihn herabgelächelt hat? Die Erin- nerung iſt das Gewinde, welches die Wiege mit dem Grabe verknüpft, und mag das dunkle ſtachlige Grün des Leidens, des Irrthums, noch ſo vorwaltend ſein; niemals wird’s hier und da an einer hervorleuchtenden Blume fehlen, bei welcher wir verweilen und flüſtern können: „Wie lieblich und heilig iſt dieſe Stätte!“ — Ich habe meine kleine Lampe angezündet und träume wieder über den Blättern meiner Chronik. Wie die ältliche freundlich-ſchöne Frau, die mir heute den Strauß junger Veilchenknospen herüberbrachte, auf den Wogen ihrer Melodien ſich ſchaukeln läßt, kann ich ja nur auf dieſe Weiſe feſthalten. — Ich habe bis jetzt Bilder gezeichnet aus unſerer Kinder Kinderleben, heute will ich ein anderes farbiges Blatt malen, wie ein Zau- berſpiegel voll blühenden Lebens, voll ſüßen Flüſterns, voll träumenden Sehnen’s und lächelnden Träumens, — ein einziges Blatt aus der vollen Pracht des Herzensfrüh- lings, ein einziges Blatt aus der Zeit der jungen Liebe!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/238
Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/238>, abgerufen am 29.04.2024.