Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

halmen; -- dann kam die Frau Rectorin mit dem Eier-
kuchen und der Rector verließ seinen Tacitus; die
Glocken der alten Stadtkirche läuteten den morgenden
Sonntag ein; -- ich hatte mich gefunden! -- Erin-
nerst Du Dich wohl noch, Hans, dieses Sonntagmor-
gens, der auf meinen ersten Tag in Ulfelden folgte?
Weißt Du wohl noch, wie Du mir in der Kirche zu-
nicktest und beim Nachhausegehen unsere Freundschaft
ihren Anfang nahm durch eine Handvoll Kletten, welche
Du mir in die Haare warfest? Weißt Du wohl, Jo-
hannes, wie ich aus dem blöden Waldjungen zu dem
tollsten, verwegensten Schlingel der ganzen Gegend her-
anwuchs und nur duckte, wenn mich die kleine Marie
aus ihren großen Augen so traurig ansah? Es war eine
prächtige Zeit und -- das Latein war durchaus keine
so böse Krankheit wie das Scharlachfriesel; -- ich hatte
diesen Gedanken aus dem Walde mitgebracht -- son-
dern höchstens ein leichter Schnupfen, der bald wieder
auszuschwitzen war.

Dann kamen die Zeichenstunden bei dem alten Ma-
ler Gruner, der mir zuerst die Welt des Schönen deut-
licher vor die Augen legte, der in seiner trockenen, kau-
stischen Weise das Leben, welches er sehr wohl kannte,
an mir vorübergleiten ließ, daß ich verlangte und mich
hinaus sehnte in diese so schön blühende Welt, wo man

halmen; — dann kam die Frau Rectorin mit dem Eier-
kuchen und der Rector verließ ſeinen Tacitus; die
Glocken der alten Stadtkirche läuteten den morgenden
Sonntag ein; — ich hatte mich gefunden! — Erin-
nerſt Du Dich wohl noch, Hans, dieſes Sonntagmor-
gens, der auf meinen erſten Tag in Ulfelden folgte?
Weißt Du wohl noch, wie Du mir in der Kirche zu-
nickteſt und beim Nachhauſegehen unſere Freundſchaft
ihren Anfang nahm durch eine Handvoll Kletten, welche
Du mir in die Haare warfeſt? Weißt Du wohl, Jo-
hannes, wie ich aus dem blöden Waldjungen zu dem
tollſten, verwegenſten Schlingel der ganzen Gegend her-
anwuchs und nur duckte, wenn mich die kleine Marie
aus ihren großen Augen ſo traurig anſah? Es war eine
prächtige Zeit und — das Latein war durchaus keine
ſo böſe Krankheit wie das Scharlachfrieſel; — ich hatte
dieſen Gedanken aus dem Walde mitgebracht — ſon-
dern höchſtens ein leichter Schnupfen, der bald wieder
auszuſchwitzen war.

Dann kamen die Zeichenſtunden bei dem alten Ma-
ler Gruner, der mir zuerſt die Welt des Schönen deut-
licher vor die Augen legte, der in ſeiner trockenen, kau-
ſtiſchen Weiſe das Leben, welches er ſehr wohl kannte,
an mir vorübergleiten ließ, daß ich verlangte und mich
hinaus ſehnte in dieſe ſo ſchön blühende Welt, wo man

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0060" n="50"/>
halmen; &#x2014; dann kam die Frau Rectorin mit dem Eier-<lb/>
kuchen und der Rector verließ &#x017F;einen Tacitus; die<lb/>
Glocken der alten Stadtkirche läuteten den morgenden<lb/>
Sonntag ein; &#x2014; ich hatte mich gefunden! &#x2014; Erin-<lb/>
ner&#x017F;t Du Dich wohl noch, Hans, die&#x017F;es Sonntagmor-<lb/>
gens, der auf meinen er&#x017F;ten Tag in Ulfelden folgte?<lb/>
Weißt Du wohl noch, wie Du mir in der Kirche zu-<lb/>
nickte&#x017F;t und beim Nachhau&#x017F;egehen un&#x017F;ere Freund&#x017F;chaft<lb/>
ihren Anfang nahm durch eine Handvoll Kletten, welche<lb/>
Du mir in die Haare warfe&#x017F;t? Weißt Du wohl, Jo-<lb/>
hannes, wie ich aus dem blöden Waldjungen zu dem<lb/>
toll&#x017F;ten, verwegen&#x017F;ten Schlingel der ganzen Gegend her-<lb/>
anwuchs und nur duckte, wenn mich die kleine Marie<lb/>
aus ihren großen Augen &#x017F;o traurig an&#x017F;ah? Es war eine<lb/>
prächtige Zeit und &#x2014; das Latein war durchaus keine<lb/>
&#x017F;o bö&#x017F;e Krankheit wie das Scharlachfrie&#x017F;el; &#x2014; ich hatte<lb/>
die&#x017F;en Gedanken aus dem Walde mitgebracht &#x2014; &#x017F;on-<lb/>
dern höch&#x017F;tens ein leichter Schnupfen, der bald wieder<lb/>
auszu&#x017F;chwitzen war.</p><lb/>
        <p>Dann kamen die Zeichen&#x017F;tunden bei dem alten Ma-<lb/>
ler Gruner, der mir zuer&#x017F;t die Welt des Schönen deut-<lb/>
licher vor die Augen legte, der in &#x017F;einer trockenen, kau-<lb/>
&#x017F;ti&#x017F;chen Wei&#x017F;e das Leben, welches er &#x017F;ehr wohl kannte,<lb/>
an mir vorübergleiten ließ, daß ich verlangte und mich<lb/>
hinaus &#x017F;ehnte in die&#x017F;e &#x017F;o &#x017F;chön blühende Welt, wo man<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0060] halmen; — dann kam die Frau Rectorin mit dem Eier- kuchen und der Rector verließ ſeinen Tacitus; die Glocken der alten Stadtkirche läuteten den morgenden Sonntag ein; — ich hatte mich gefunden! — Erin- nerſt Du Dich wohl noch, Hans, dieſes Sonntagmor- gens, der auf meinen erſten Tag in Ulfelden folgte? Weißt Du wohl noch, wie Du mir in der Kirche zu- nickteſt und beim Nachhauſegehen unſere Freundſchaft ihren Anfang nahm durch eine Handvoll Kletten, welche Du mir in die Haare warfeſt? Weißt Du wohl, Jo- hannes, wie ich aus dem blöden Waldjungen zu dem tollſten, verwegenſten Schlingel der ganzen Gegend her- anwuchs und nur duckte, wenn mich die kleine Marie aus ihren großen Augen ſo traurig anſah? Es war eine prächtige Zeit und — das Latein war durchaus keine ſo böſe Krankheit wie das Scharlachfrieſel; — ich hatte dieſen Gedanken aus dem Walde mitgebracht — ſon- dern höchſtens ein leichter Schnupfen, der bald wieder auszuſchwitzen war. Dann kamen die Zeichenſtunden bei dem alten Ma- ler Gruner, der mir zuerſt die Welt des Schönen deut- licher vor die Augen legte, der in ſeiner trockenen, kau- ſtiſchen Weiſe das Leben, welches er ſehr wohl kannte, an mir vorübergleiten ließ, daß ich verlangte und mich hinaus ſehnte in dieſe ſo ſchön blühende Welt, wo man

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/60
Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/60>, abgerufen am 01.05.2024.