Der alte Künstler hebt die Ge- stalt ins Ideal; der neue hält sich an die gemei- ne Natur: Jener giebt seinen Kö- pfen den Ausdruck thätiger Gei- stesgröße; dieser duld- samer De- muth, oder finsterer Ein- gezogenheit.
Aber selbst in den Theilen des Nackenden, welche dem neueren Künstler mit den alten zum Vorwurf bildlicher Darstellung auf gleiche Art geblieben sind: in den Köpfen, in den Extremitäten, treffen wir eine wesentliche Verschiedenheit zwischen beiden an. Der letzte scheint vermittelst des idealen Schönen immer über die Gränze der uns bekannten Natur hinauszu- gehen, während daß der erste nicht blos aus Unver- mögen, sondern mit Vorbedacht bei der Darstellung der gewöhnlichen Natur stehen bleibt.
Mehr! der Ausdruck in den Köpfen der Figuren des mythischen Cirkels der Alten, der physiognomische, nicht der pathalogische Charakter ist viel bedeutungs- voller, höher, edler, als in den Köpfen der Personen unserer Gottheit, unserer Patriarchen, Apostel und Heiligen, welche mehrestentheils das Gepräge finste- rer Eingezogenheit, oder duldsamer Demuth auf ih- ren Gesichtsbildungen tragen. Es ist hier der Ort, die Gründe dieses neuen Unterscheidungszeichen des alten und des Kirchenstils aufzusuchen.
Die Gründe dieser Ver- schiedenheit werden aus der verschie- denen sittli- chen, politi- schen und re- ligiösen Er- ziehung des Menschen, und zugleich aus dem ver-
Einer derselben ist durch die vorhergegangene Be- merkung angezeigt, daß die Griechen von einer schö- neren Natur umgeben waren. Aber dieser Grund allein erklärt nicht Alles. Die brittische Nation ist seit langer Zeit die schönste des heutigen Europa; aber erst spät haben diese Insulaner die Künste geliebt, und noch jetzt ist nicht Schönheit der erste Zweck der Bemühungen, die sie ihnen widmen.
War der physische Nervenbau der Griechen em- pfänglicher für die Empfindung des Schönen? Es ist nicht unwahrscheinlich. War ihre politische, sittliche und religiöse Erziehung mehr dazu gemacht, den
Sinn
Ueber die Kennz. des Kirchenſtils
Der alte Kuͤnſtler hebt die Ge- ſtalt ins Ideal; der neue haͤlt ſich an die gemei- ne Natur: Jener giebt ſeinen Koͤ- pfen den Ausdruck thaͤtiger Gei- ſtesgroͤße; dieſer duld- ſamer De- muth, oder finſterer Ein- gezogenheit.
Aber ſelbſt in den Theilen des Nackenden, welche dem neueren Kuͤnſtler mit den alten zum Vorwurf bildlicher Darſtellung auf gleiche Art geblieben ſind: in den Koͤpfen, in den Extremitaͤten, treffen wir eine weſentliche Verſchiedenheit zwiſchen beiden an. Der letzte ſcheint vermittelſt des idealen Schoͤnen immer uͤber die Graͤnze der uns bekannten Natur hinauszu- gehen, waͤhrend daß der erſte nicht blos aus Unver- moͤgen, ſondern mit Vorbedacht bei der Darſtellung der gewoͤhnlichen Natur ſtehen bleibt.
Mehr! der Ausdruck in den Koͤpfen der Figuren des mythiſchen Cirkels der Alten, der phyſiognomiſche, nicht der pathalogiſche Charakter iſt viel bedeutungs- voller, hoͤher, edler, als in den Koͤpfen der Perſonen unſerer Gottheit, unſerer Patriarchen, Apoſtel und Heiligen, welche mehreſtentheils das Gepraͤge finſte- rer Eingezogenheit, oder duldſamer Demuth auf ih- ren Geſichtsbildungen tragen. Es iſt hier der Ort, die Gruͤnde dieſes neuen Unterſcheidungszeichen des alten und des Kirchenſtils aufzuſuchen.
Die Gruͤnde dieſer Ver- ſchiedenheit werden aus der verſchie- denen ſittli- chen, politi- ſchen und re- ligioͤſen Er- ziehung des Menſchen, und zugleich aus dem ver-
Einer derſelben iſt durch die vorhergegangene Be- merkung angezeigt, daß die Griechen von einer ſchoͤ- neren Natur umgeben waren. Aber dieſer Grund allein erklaͤrt nicht Alles. Die brittiſche Nation iſt ſeit langer Zeit die ſchoͤnſte des heutigen Europa; aber erſt ſpaͤt haben dieſe Inſulaner die Kuͤnſte geliebt, und noch jetzt iſt nicht Schoͤnheit der erſte Zweck der Bemuͤhungen, die ſie ihnen widmen.
War der phyſiſche Nervenbau der Griechen em- pfaͤnglicher fuͤr die Empfindung des Schoͤnen? Es iſt nicht unwahrſcheinlich. War ihre politiſche, ſittliche und religioͤſe Erziehung mehr dazu gemacht, den
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Ueber die Kennz. des Kirchenſtils
Aber ſelbſt in den Theilen des Nackenden, welche
dem neueren Kuͤnſtler mit den alten zum Vorwurf
bildlicher Darſtellung auf gleiche Art geblieben ſind:
in den Koͤpfen, in den Extremitaͤten, treffen wir eine
weſentliche Verſchiedenheit zwiſchen beiden an. Der
letzte ſcheint vermittelſt des idealen Schoͤnen immer
uͤber die Graͤnze der uns bekannten Natur hinauszu-
gehen, waͤhrend daß der erſte nicht blos aus Unver-
moͤgen, ſondern mit Vorbedacht bei der Darſtellung
der gewoͤhnlichen Natur ſtehen bleibt.
Mehr! der Ausdruck in den Koͤpfen der Figuren
des mythiſchen Cirkels der Alten, der phyſiognomiſche,
nicht der pathalogiſche Charakter iſt viel bedeutungs-
voller, hoͤher, edler, als in den Koͤpfen der Perſonen
unſerer Gottheit, unſerer Patriarchen, Apoſtel und
Heiligen, welche mehreſtentheils das Gepraͤge finſte-
rer Eingezogenheit, oder duldſamer Demuth auf ih-
ren Geſichtsbildungen tragen. Es iſt hier der Ort,
die Gruͤnde dieſes neuen Unterſcheidungszeichen des
alten und des Kirchenſtils aufzuſuchen.
Einer derſelben iſt durch die vorhergegangene Be-
merkung angezeigt, daß die Griechen von einer ſchoͤ-
neren Natur umgeben waren. Aber dieſer Grund
allein erklaͤrt nicht Alles. Die brittiſche Nation iſt
ſeit langer Zeit die ſchoͤnſte des heutigen Europa; aber
erſt ſpaͤt haben dieſe Inſulaner die Kuͤnſte geliebt,
und noch jetzt iſt nicht Schoͤnheit der erſte Zweck der
Bemuͤhungen, die ſie ihnen widmen.
War der phyſiſche Nervenbau der Griechen em-
pfaͤnglicher fuͤr die Empfindung des Schoͤnen? Es iſt
nicht unwahrſcheinlich. War ihre politiſche, ſittliche
und religioͤſe Erziehung mehr dazu gemacht, den
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/204>, abgerufen am 17.06.2024.
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