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Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

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die Moral erst jetzt dem christlichen Streiter in die Hände lieferte, und die von denjenigen, womit die Schüler des Sokrates nach Vollkommenheit gerungen hatten, völlig verschieden waren.

Das Sittensystem der Christen war nicht auf einen gewissen Staat, nicht auf gewisse Stände berechnet. Es empfahl Pflichten, die in jeder Verfassung, in jeder Lage galten. Ein leidender Gehorsam, der sich selbst unter Unterdrückung willig beuget; eine Achtung für jeden Menschen, als ein Wesen, das den nehmlichen Anspruch mit uns auf das Reich Gottes hat; eine Entäußerung alles eigenen Verdienstes, eine Herabwürdigung unsers Selbstes unter den geringsten und schwächsten unsrer Nebenmenschen; eine Liebe zu Gott, die jede irdische Neigung hinrafft; - das sind die Forderungen, welche das Christenthum nach den damahligen Begriffen an den vollkommenen Menschen machte.

Bald wurde das System der Neuplatoniker zu dem Christlichen gemischt, und beyde kamen dahin überein, die Erhebung über die Sinnlichkeit, die geduldige Ertragung aller Schicksale, die Verachtung aller Mittel, wodurch sich der Mensch Ruhm und Auszeichnung erwirbt, als den sichersten Weg anzusehen, wodurch man sich mit Gott und dem Reiche unsinnlicher Wesen vereinigen könne.

Obgleich diese Denkungsart nie ganz allgemein hat werden können, so hat sie doch gewiß selbst auf die gute Sitte eingewirkt, und diese in manchen Stücken modificiert. Man hat nicht mehr den nehmlichen Werth auf eine verfeinerte Sinnlichkeit, und auf alle diejenigen Leidenschaften gelegt, die man sonst edel nannte.

die Moral erst jetzt dem christlichen Streiter in die Hände lieferte, und die von denjenigen, womit die Schüler des Sokrates nach Vollkommenheit gerungen hatten, völlig verschieden waren.

Das Sittensystem der Christen war nicht auf einen gewissen Staat, nicht auf gewisse Stände berechnet. Es empfahl Pflichten, die in jeder Verfassung, in jeder Lage galten. Ein leidender Gehorsam, der sich selbst unter Unterdrückung willig beuget; eine Achtung für jeden Menschen, als ein Wesen, das den nehmlichen Anspruch mit uns auf das Reich Gottes hat; eine Entäußerung alles eigenen Verdienstes, eine Herabwürdigung unsers Selbstes unter den geringsten und schwächsten unsrer Nebenmenschen; eine Liebe zu Gott, die jede irdische Neigung hinrafft; – das sind die Forderungen, welche das Christenthum nach den damahligen Begriffen an den vollkommenen Menschen machte.

Bald wurde das System der Neuplatoniker zu dem Christlichen gemischt, und beyde kamen dahin überein, die Erhebung über die Sinnlichkeit, die geduldige Ertragung aller Schicksale, die Verachtung aller Mittel, wodurch sich der Mensch Ruhm und Auszeichnung erwirbt, als den sichersten Weg anzusehen, wodurch man sich mit Gott und dem Reiche unsinnlicher Wesen vereinigen könne.

Obgleich diese Denkungsart nie ganz allgemein hat werden können, so hat sie doch gewiß selbst auf die gute Sitte eingewirkt, und diese in manchen Stücken modificiert. Man hat nicht mehr den nehmlichen Werth auf eine verfeinerte Sinnlichkeit, und auf alle diejenigen Leidenschaften gelegt, die man sonst edel nannte.

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[347/0347] die Moral erst jetzt dem christlichen Streiter in die Hände lieferte, und die von denjenigen, womit die Schüler des Sokrates nach Vollkommenheit gerungen hatten, völlig verschieden waren. Das Sittensystem der Christen war nicht auf einen gewissen Staat, nicht auf gewisse Stände berechnet. Es empfahl Pflichten, die in jeder Verfassung, in jeder Lage galten. Ein leidender Gehorsam, der sich selbst unter Unterdrückung willig beuget; eine Achtung für jeden Menschen, als ein Wesen, das den nehmlichen Anspruch mit uns auf das Reich Gottes hat; eine Entäußerung alles eigenen Verdienstes, eine Herabwürdigung unsers Selbstes unter den geringsten und schwächsten unsrer Nebenmenschen; eine Liebe zu Gott, die jede irdische Neigung hinrafft; – das sind die Forderungen, welche das Christenthum nach den damahligen Begriffen an den vollkommenen Menschen machte. Bald wurde das System der Neuplatoniker zu dem Christlichen gemischt, und beyde kamen dahin überein, die Erhebung über die Sinnlichkeit, die geduldige Ertragung aller Schicksale, die Verachtung aller Mittel, wodurch sich der Mensch Ruhm und Auszeichnung erwirbt, als den sichersten Weg anzusehen, wodurch man sich mit Gott und dem Reiche unsinnlicher Wesen vereinigen könne. Obgleich diese Denkungsart nie ganz allgemein hat werden können, so hat sie doch gewiß selbst auf die gute Sitte eingewirkt, und diese in manchen Stücken modificiert. Man hat nicht mehr den nehmlichen Werth auf eine verfeinerte Sinnlichkeit, und auf alle diejenigen Leidenschaften gelegt, die man sonst edel nannte.

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Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/347>, abgerufen am 27.04.2024.