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Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils zweyte Abtheilung: Neuere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

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verschiedene Sprachen übersetzt, besitzen, aus älteren kürzeren Gedichten des nehmlichen Inhalts, oder wenigstens aus lateinischen Legenden, entlehnt sey. Aber die Uebersetzer haben gemeiniglich ihr Original durch Zusätze verlängert, welche das Urtheil über die Sitten der Zeit, worin das Gedicht verfertigt seyn kann, äußerst zweifelhaft machen. Bey jeder neuen Auflage, welche der Roman erhalten hat, ist beynahe immer etwas verändert. Sagt man uns daher gleich, dieser oder jener Roman sey der älteste: sey in diesem oder jenem Jahrhunderte verfertigt; so fragt es sich immer wieder: ist das Exemplar, was wir in Händen haben, eine getreue Abschrift, oder ein genauer Abdruck desjenigen, den der Zeitbestimmer vor sich hatte?

Der Ursprung der Romane des Mittelalters ist unstreitig in den Legenden zu suchen, welche im zehnten und eilften Jahrhunderte häufig verfertigt wurden, um den Verlust derjenigen zu ersetzen, welche die fast allgemeine Zerstörung der Klöster durch die Normänner vernichtet hatte. Man legte mündliche Sagen dabey zum Grunde, ließ aber zugleich eine Menge eigener Erfindungen mit einfließen, um die Gemüther durch das Wunderbare desto mehr anzuziehen, und die Ehre der Heiligen und Reliquien zu verherrlichen. Dieß Zeitalter war überhaupt sehr aufgelegt zu frommen Betrügereyen. 60)

Einmahl gewöhnt, zu Erreichung gewisser Absichten die heilige Geschichte mit abentheuerlichen Erfindungen

60) Die falschen Dekretalen, die Briefe Christi, u. s. w. dienen zum Beweise. Man nannte diese Verfahrungsart sehr naiv: pro pietate mentiri. Schmidts Gesch. d. Deutsch. 2. B. S. 375. Edit. 1784.

verschiedene Sprachen übersetzt, besitzen, aus älteren kürzeren Gedichten des nehmlichen Inhalts, oder wenigstens aus lateinischen Legenden, entlehnt sey. Aber die Uebersetzer haben gemeiniglich ihr Original durch Zusätze verlängert, welche das Urtheil über die Sitten der Zeit, worin das Gedicht verfertigt seyn kann, äußerst zweifelhaft machen. Bey jeder neuen Auflage, welche der Roman erhalten hat, ist beynahe immer etwas verändert. Sagt man uns daher gleich, dieser oder jener Roman sey der älteste: sey in diesem oder jenem Jahrhunderte verfertigt; so fragt es sich immer wieder: ist das Exemplar, was wir in Händen haben, eine getreue Abschrift, oder ein genauer Abdruck desjenigen, den der Zeitbestimmer vor sich hatte?

Der Ursprung der Romane des Mittelalters ist unstreitig in den Legenden zu suchen, welche im zehnten und eilften Jahrhunderte häufig verfertigt wurden, um den Verlust derjenigen zu ersetzen, welche die fast allgemeine Zerstörung der Klöster durch die Normänner vernichtet hatte. Man legte mündliche Sagen dabey zum Grunde, ließ aber zugleich eine Menge eigener Erfindungen mit einfließen, um die Gemüther durch das Wunderbare desto mehr anzuziehen, und die Ehre der Heiligen und Reliquien zu verherrlichen. Dieß Zeitalter war überhaupt sehr aufgelegt zu frommen Betrügereyen. 60)

Einmahl gewöhnt, zu Erreichung gewisser Absichten die heilige Geschichte mit abentheuerlichen Erfindungen

60) Die falschen Dekretalen, die Briefe Christi, u. s. w. dienen zum Beweise. Man nannte diese Verfahrungsart sehr naiv: pro pietate mentiri. Schmidts Gesch. d. Deutsch. 2. B. S. 375. Edit. 1784.
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[114/0114] verschiedene Sprachen übersetzt, besitzen, aus älteren kürzeren Gedichten des nehmlichen Inhalts, oder wenigstens aus lateinischen Legenden, entlehnt sey. Aber die Uebersetzer haben gemeiniglich ihr Original durch Zusätze verlängert, welche das Urtheil über die Sitten der Zeit, worin das Gedicht verfertigt seyn kann, äußerst zweifelhaft machen. Bey jeder neuen Auflage, welche der Roman erhalten hat, ist beynahe immer etwas verändert. Sagt man uns daher gleich, dieser oder jener Roman sey der älteste: sey in diesem oder jenem Jahrhunderte verfertigt; so fragt es sich immer wieder: ist das Exemplar, was wir in Händen haben, eine getreue Abschrift, oder ein genauer Abdruck desjenigen, den der Zeitbestimmer vor sich hatte? Der Ursprung der Romane des Mittelalters ist unstreitig in den Legenden zu suchen, welche im zehnten und eilften Jahrhunderte häufig verfertigt wurden, um den Verlust derjenigen zu ersetzen, welche die fast allgemeine Zerstörung der Klöster durch die Normänner vernichtet hatte. Man legte mündliche Sagen dabey zum Grunde, ließ aber zugleich eine Menge eigener Erfindungen mit einfließen, um die Gemüther durch das Wunderbare desto mehr anzuziehen, und die Ehre der Heiligen und Reliquien zu verherrlichen. Dieß Zeitalter war überhaupt sehr aufgelegt zu frommen Betrügereyen. 60) Einmahl gewöhnt, zu Erreichung gewisser Absichten die heilige Geschichte mit abentheuerlichen Erfindungen 60) Die falschen Dekretalen, die Briefe Christi, u. s. w. dienen zum Beweise. Man nannte diese Verfahrungsart sehr naiv: pro pietate mentiri. Schmidts Gesch. d. Deutsch. 2. B. S. 375. Edit. 1784.

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Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils zweyte Abtheilung: Neuere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0302_1798/114>, abgerufen am 26.04.2024.