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Ranke, Leopold von: Die römischen Päpste. Bd. 3. Berlin, 1836.

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Buch VIII. Die Päpste um d. Mitte d. 17. Jahrh.
Zeiten vorüber sind, die weitern Verirrungen eines alle
Moral vernichtenden Scharfsinnes, in welchem von diesen
Lehrern einer den andern mit literarischem Wetteifer zu über-
bieten strebte, hervorsuchen? Aber zu leugnen ist nicht,
daß auch die schroffesten Lehren einzelner Doctoren durch ei-
nen andern Grundsatz der Jesuiten, durch ihre Lehre von
der Probabilität, sehr gefährlich wurden. Sie behaupteten,
man dürfe in zweifelhaften Fällen einer Meinung folgen
von der man nicht selber überzeugt sey, vorausgesetzt daß
sie von einem angesehenen Autor vertheidigt werde 1): sie
hielten es nicht allein für erlaubt, den nachsichtigsten Leh-
rern zu folgen, sondern sie riethen das sogar an. Gewis-
sensscrupel müsse man verachten, ja der wahre Weg sich
ihrer zu entledigen sey, daß man die mildesten Meinungen
befolge, selbst wenn sie weniger sicher seyn sollten 2). Wie
wird das innerste Geheimniß der Selbstbestimmung hiedurch
ein so ganz äußerliches Thun. In den jesuitischen Hand-
büchern sind alle Möglichkeiten der Fälle des Lebens be-
handelt, ungefähr in dem Sinne wie es in Systemen des
bürgerlichen Rechts zu geschehen pflegt, und nach dem
Grade ihrer Entschuldbarkeit geprüft; man braucht nur dar-
in nachzuschlagen, und sich ohne eigene Ueberzeugung dar-
nach zu richten, so ist man der Absolution vor Gott und

1) Em. Sa: Aphorismi Confessariorum s. v. dubium. Po-
test quis facere quod probabili ratione vel auctoritate putat li-
cere, etiamsi oppositum tutius sit: sufficit autem opinio ali-
cujus gravis autoris.
2) Busembaum lib. I, c. III: Remedia conscientiae scrupu-
losae sunt 1. scrupulos contemnere, 4. assuefacere se ad sequen-
das sententias mitiores et minus etiam certas.

Buch VIII. Die Paͤpſte um d. Mitte d. 17. Jahrh.
Zeiten voruͤber ſind, die weitern Verirrungen eines alle
Moral vernichtenden Scharfſinnes, in welchem von dieſen
Lehrern einer den andern mit literariſchem Wetteifer zu uͤber-
bieten ſtrebte, hervorſuchen? Aber zu leugnen iſt nicht,
daß auch die ſchroffeſten Lehren einzelner Doctoren durch ei-
nen andern Grundſatz der Jeſuiten, durch ihre Lehre von
der Probabilitaͤt, ſehr gefaͤhrlich wurden. Sie behaupteten,
man duͤrfe in zweifelhaften Faͤllen einer Meinung folgen
von der man nicht ſelber uͤberzeugt ſey, vorausgeſetzt daß
ſie von einem angeſehenen Autor vertheidigt werde 1): ſie
hielten es nicht allein fuͤr erlaubt, den nachſichtigſten Leh-
rern zu folgen, ſondern ſie riethen das ſogar an. Gewiſ-
ſensſcrupel muͤſſe man verachten, ja der wahre Weg ſich
ihrer zu entledigen ſey, daß man die mildeſten Meinungen
befolge, ſelbſt wenn ſie weniger ſicher ſeyn ſollten 2). Wie
wird das innerſte Geheimniß der Selbſtbeſtimmung hiedurch
ein ſo ganz aͤußerliches Thun. In den jeſuitiſchen Hand-
buͤchern ſind alle Moͤglichkeiten der Faͤlle des Lebens be-
handelt, ungefaͤhr in dem Sinne wie es in Syſtemen des
buͤrgerlichen Rechts zu geſchehen pflegt, und nach dem
Grade ihrer Entſchuldbarkeit gepruͤft; man braucht nur dar-
in nachzuſchlagen, und ſich ohne eigene Ueberzeugung dar-
nach zu richten, ſo iſt man der Abſolution vor Gott und

1) Em. Sa: Aphorismi Confessariorum s. v. dubium. Po-
test quis facere quod probabili ratione vel auctoritate putat li-
cere, etiamsi oppositum tutius sit: sufficit autem opinio ali-
cujus gravis autoris.
2) Busembaum lib. I, c. III: Remedia conscientiae scrupu-
losae sunt 1. scrupulos contemnere, 4. assuefacere se ad sequen-
das sententias mitiores et minus etiam certas.
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[134/0146] Buch VIII. Die Paͤpſte um d. Mitte d. 17. Jahrh. Zeiten voruͤber ſind, die weitern Verirrungen eines alle Moral vernichtenden Scharfſinnes, in welchem von dieſen Lehrern einer den andern mit literariſchem Wetteifer zu uͤber- bieten ſtrebte, hervorſuchen? Aber zu leugnen iſt nicht, daß auch die ſchroffeſten Lehren einzelner Doctoren durch ei- nen andern Grundſatz der Jeſuiten, durch ihre Lehre von der Probabilitaͤt, ſehr gefaͤhrlich wurden. Sie behaupteten, man duͤrfe in zweifelhaften Faͤllen einer Meinung folgen von der man nicht ſelber uͤberzeugt ſey, vorausgeſetzt daß ſie von einem angeſehenen Autor vertheidigt werde 1): ſie hielten es nicht allein fuͤr erlaubt, den nachſichtigſten Leh- rern zu folgen, ſondern ſie riethen das ſogar an. Gewiſ- ſensſcrupel muͤſſe man verachten, ja der wahre Weg ſich ihrer zu entledigen ſey, daß man die mildeſten Meinungen befolge, ſelbſt wenn ſie weniger ſicher ſeyn ſollten 2). Wie wird das innerſte Geheimniß der Selbſtbeſtimmung hiedurch ein ſo ganz aͤußerliches Thun. In den jeſuitiſchen Hand- buͤchern ſind alle Moͤglichkeiten der Faͤlle des Lebens be- handelt, ungefaͤhr in dem Sinne wie es in Syſtemen des buͤrgerlichen Rechts zu geſchehen pflegt, und nach dem Grade ihrer Entſchuldbarkeit gepruͤft; man braucht nur dar- in nachzuſchlagen, und ſich ohne eigene Ueberzeugung dar- nach zu richten, ſo iſt man der Abſolution vor Gott und 1) Em. Sa: Aphorismi Confessariorum s. v. dubium. Po- test quis facere quod probabili ratione vel auctoritate putat li- cere, etiamsi oppositum tutius sit: sufficit autem opinio ali- cujus gravis autoris. 2) Busembaum lib. I, c. III: Remedia conscientiae scrupu- losae sunt 1. scrupulos contemnere, 4. assuefacere se ad sequen- das sententias mitiores et minus etiam certas.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Die römischen Päpste. Bd. 3. Berlin, 1836, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_paepste03_1836/146>, abgerufen am 29.04.2024.