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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.

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Zweites Buch. Erstes Capitel.
Erinnerung an die Abgeschiednen zum Schrecken der Le-
bendigen, und der religiöse Ritus war vor allem bestimmt,
ihre verderbliche Einwirkung abzuwehren; es gehörte schon
eine gewisse Erhebung der Seele, ein Grad von Cultur
auch des Gemeinwesens dazu, um nur die Gestirne und
Sonne und Mond anzubeten.

Geistig entwickelt, literarisch ausgebildet, in großen
Hierarchien dargestellt, standen dem Christenthum vor al-
lem die indischen Religionen und der Islam entgegen, und
es ist merkwürdig, in welch einer lebendigen inneren Bewe-
gung wir sie in unsrer Epoche begriffen sehen.

War die Lehre der Braminen ursprünglich von mono-
theistischen Ideen ausgegangen, so hatte sie dieselben doch
wieder mit dem vielgestaltigsten Götzendienst verhüllt; Ende
des funfzehnten, Anfang des sechszehnten Jahrhunderts
bemerken wir in Hindostan, von Lahore her die Thätig-
keit eines Reformators: Nanek, der die ursprünglichen Ideen
wiederherzustellen unternahm, dem Cerimoniendienst die Be-
deutung des Moralisch-guten entgegensetzte, auf Vernich-
tung des Unterschiedes der Casten, ja eine Vereinigung der
Hindus und der Moslimen dachte, -- eine der außeror-
dentlichsten Erscheinungen friedlicher nichtfanatischer Reli-
giosität. 1 Leider drang er nicht durch. Die Vorstellun-
gen die er bekämpfte waren allzutief gewurzelt. Dem
Manne, der den Götzendienst zu zerstören suchte, erweisen

1 B'hai Guru das B'hale in der Übersetzung Malcolms Sketch
of the Sikhs Asiatic Researches XVI, 271. That holy man made
God the supreme known to all -- he restored to virtue her
strength, blended the four castes into one: established one mode
of salutation.

Zweites Buch. Erſtes Capitel.
Erinnerung an die Abgeſchiednen zum Schrecken der Le-
bendigen, und der religiöſe Ritus war vor allem beſtimmt,
ihre verderbliche Einwirkung abzuwehren; es gehörte ſchon
eine gewiſſe Erhebung der Seele, ein Grad von Cultur
auch des Gemeinweſens dazu, um nur die Geſtirne und
Sonne und Mond anzubeten.

Geiſtig entwickelt, literariſch ausgebildet, in großen
Hierarchien dargeſtellt, ſtanden dem Chriſtenthum vor al-
lem die indiſchen Religionen und der Islam entgegen, und
es iſt merkwürdig, in welch einer lebendigen inneren Bewe-
gung wir ſie in unſrer Epoche begriffen ſehen.

War die Lehre der Braminen urſprünglich von mono-
theiſtiſchen Ideen ausgegangen, ſo hatte ſie dieſelben doch
wieder mit dem vielgeſtaltigſten Götzendienſt verhüllt; Ende
des funfzehnten, Anfang des ſechszehnten Jahrhunderts
bemerken wir in Hindoſtan, von Lahore her die Thätig-
keit eines Reformators: Nanek, der die urſprünglichen Ideen
wiederherzuſtellen unternahm, dem Cerimoniendienſt die Be-
deutung des Moraliſch-guten entgegenſetzte, auf Vernich-
tung des Unterſchiedes der Caſten, ja eine Vereinigung der
Hindus und der Moslimen dachte, — eine der außeror-
dentlichſten Erſcheinungen friedlicher nichtfanatiſcher Reli-
gioſität. 1 Leider drang er nicht durch. Die Vorſtellun-
gen die er bekämpfte waren allzutief gewurzelt. Dem
Manne, der den Götzendienſt zu zerſtören ſuchte, erweiſen

1 B’hai Guru das B’hale in der Uͤberſetzung Malcolms Sketch
of the Sikhs Asiatic Researches XVI, 271. That holy man made
God the supreme known to all — he restored to virtue her
strength, blended the four castes into one: established one mode
of salutation.
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[226/0244] Zweites Buch. Erſtes Capitel. Erinnerung an die Abgeſchiednen zum Schrecken der Le- bendigen, und der religiöſe Ritus war vor allem beſtimmt, ihre verderbliche Einwirkung abzuwehren; es gehörte ſchon eine gewiſſe Erhebung der Seele, ein Grad von Cultur auch des Gemeinweſens dazu, um nur die Geſtirne und Sonne und Mond anzubeten. Geiſtig entwickelt, literariſch ausgebildet, in großen Hierarchien dargeſtellt, ſtanden dem Chriſtenthum vor al- lem die indiſchen Religionen und der Islam entgegen, und es iſt merkwürdig, in welch einer lebendigen inneren Bewe- gung wir ſie in unſrer Epoche begriffen ſehen. War die Lehre der Braminen urſprünglich von mono- theiſtiſchen Ideen ausgegangen, ſo hatte ſie dieſelben doch wieder mit dem vielgeſtaltigſten Götzendienſt verhüllt; Ende des funfzehnten, Anfang des ſechszehnten Jahrhunderts bemerken wir in Hindoſtan, von Lahore her die Thätig- keit eines Reformators: Nanek, der die urſprünglichen Ideen wiederherzuſtellen unternahm, dem Cerimoniendienſt die Be- deutung des Moraliſch-guten entgegenſetzte, auf Vernich- tung des Unterſchiedes der Caſten, ja eine Vereinigung der Hindus und der Moslimen dachte, — eine der außeror- dentlichſten Erſcheinungen friedlicher nichtfanatiſcher Reli- gioſität. 1 Leider drang er nicht durch. Die Vorſtellun- gen die er bekämpfte waren allzutief gewurzelt. Dem Manne, der den Götzendienſt zu zerſtören ſuchte, erweiſen 1 B’hai Guru das B’hale in der Uͤberſetzung Malcolms Sketch of the Sikhs Asiatic Researches XVI, 271. That holy man made God the supreme known to all — he restored to virtue her strength, blended the four castes into one: established one mode of salutation.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/244>, abgerufen am 28.04.2024.