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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

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gen müsse. Ihr Detail würde wahrscheinlich eine
Rüstkammer für leere Köpfe seyn, die davon
einen unrechten Gebrauch machten. Es ist genug,
dass der Arzt mit allen den allgemeinen Kennt-
nissen ausgerüstet sey, die von ihm gefordert wer-
den können, wenn er als Arzt der Irrenden auf-
treten will. Dann kann er die Ideen extempori-
siren, durch welche er den besonderen Modifika-
tionen des Wahns begegnen soll.

Zum Beschluss noch ein Paar Beispiele. Ein
Wahnsinniger in Bicetre hielt sich für einen König,
und schrieb seiner Frau in einem befehlenden Ton,
dass sie ihn aus seinem Arrest befreien solle. Ein
Reconvalescent machte ihm darüber Vorwürfe, die
so gut wirkten, dass er den Brief zerriss und
einen andern schrieb. Diese Stimmung nützte
Pussin, ging zu ihm, machte ihn darauf auf-
merksam, dass er kein Souverain sey, weil er
seine Gefangenschaft nicht beendigen könne, und
unter Wahnsinnigen aller Art bleiben müsse. Am
andern Tage setzte er sein begonnenes Werk fort,
zeigte ihm das Absurde seines Wahns, stellte ihm
einen andern Verrückten vor, der des nemlichen
Glaubens sey, und daher allen vernünftigen Men-
schen zum Gelächter diene. Diese Vorstellungen
erschütterten anfangs den Kranken, dann fing er
allmälig an, seine Souverainität zu bezweifeln,
nach vierzehn Tagen war er frey von seiner Chi-
märe und nach einigen Probemonaten wurde er

gen müſſe. Ihr Detail würde wahrſcheinlich eine
Rüſtkammer für leere Köpfe ſeyn, die davon
einen unrechten Gebrauch machten. Es iſt genug,
daſs der Arzt mit allen den allgemeinen Kennt-
niſſen ausgerüſtet ſey, die von ihm gefordert wer-
den können, wenn er als Arzt der Irrenden auf-
treten will. Dann kann er die Ideen extempori-
ſiren, durch welche er den beſonderen Modifika-
tionen des Wahns begegnen ſoll.

Zum Beſchluſs noch ein Paar Beiſpiele. Ein
Wahnſinniger in Bicetre hielt ſich für einen König,
und ſchrieb ſeiner Frau in einem befehlenden Ton,
daſs ſie ihn aus ſeinem Arreſt befreien ſolle. Ein
Reconvaleſcent machte ihm darüber Vorwürfe, die
ſo gut wirkten, daſs er den Brief zerriſs und
einen andern ſchrieb. Dieſe Stimmung nützte
Puſſin, ging zu ihm, machte ihn darauf auf-
merkſam, daſs er kein Souverain ſey, weil er
ſeine Gefangenſchaft nicht beendigen könne, und
unter Wahnſinnigen aller Art bleiben müſſe. Am
andern Tage ſetzte er ſein begonnenes Werk fort,
zeigte ihm das Abſurde ſeines Wahns, ſtellte ihm
einen andern Verrückten vor, der des nemlichen
Glaubens ſey, und daher allen vernünftigen Men-
ſchen zum Gelächter diene. Dieſe Vorſtellungen
erſchütterten anfangs den Kranken, dann fing er
allmälig an, ſeine Souverainität zu bezweifeln,
nach vierzehn Tagen war er frey von ſeiner Chi-
märe und nach einigen Probemonaten wurde er

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[216/0221] gen müſſe. Ihr Detail würde wahrſcheinlich eine Rüſtkammer für leere Köpfe ſeyn, die davon einen unrechten Gebrauch machten. Es iſt genug, daſs der Arzt mit allen den allgemeinen Kennt- niſſen ausgerüſtet ſey, die von ihm gefordert wer- den können, wenn er als Arzt der Irrenden auf- treten will. Dann kann er die Ideen extempori- ſiren, durch welche er den beſonderen Modifika- tionen des Wahns begegnen ſoll. Zum Beſchluſs noch ein Paar Beiſpiele. Ein Wahnſinniger in Bicetre hielt ſich für einen König, und ſchrieb ſeiner Frau in einem befehlenden Ton, daſs ſie ihn aus ſeinem Arreſt befreien ſolle. Ein Reconvaleſcent machte ihm darüber Vorwürfe, die ſo gut wirkten, daſs er den Brief zerriſs und einen andern ſchrieb. Dieſe Stimmung nützte Puſſin, ging zu ihm, machte ihn darauf auf- merkſam, daſs er kein Souverain ſey, weil er ſeine Gefangenſchaft nicht beendigen könne, und unter Wahnſinnigen aller Art bleiben müſſe. Am andern Tage ſetzte er ſein begonnenes Werk fort, zeigte ihm das Abſurde ſeines Wahns, ſtellte ihm einen andern Verrückten vor, der des nemlichen Glaubens ſey, und daher allen vernünftigen Men- ſchen zum Gelächter diene. Dieſe Vorſtellungen erſchütterten anfangs den Kranken, dann fing er allmälig an, ſeine Souverainität zu bezweifeln, nach vierzehn Tagen war er frey von ſeiner Chi- märe und nach einigen Probemonaten wurde er

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Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/221>, abgerufen am 26.04.2024.