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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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4. Die Familie. Adoption. Erziehung und Unterricht etc.

Yoshiwaras (Freudenfelder) nennt man in Japan die Stadt-
theile und oft auch die einzelnen, meist verhältnissmässig grossen
und stattlichen Häuser, welche der Aphrodite gewidmet sind. Nach
dem Urteile Aller, welche die einschlagenden Verhältnisse genauer
kennen, erscheint in Japan das gefallene Frauenzimmer nie auf einer
so niedrigen, rohen Stufe, wie in unseren grossen Städten. Ander-
seits werden die Bewohnerinnen der Yoshiwaras vom besseren Theile
der Gesellschaft nicht verachtet, sondern bemitleidet, weiss man doch,
dass sie nicht aus eigener Schuld und Neigung ihrem niedrigen Ge-
werbe obliegen, sondern nach dem Willen ihrer Eltern oder nächsten
Verwandten, die sie meist schon in zarter Jugend an die Besitzer
der öffentlichen Häuser verkauften, wo sie in verschiedenen Dingen
unterrichtet werden, namentlich aber in den Künsten der Aspasia,
bis zu der Zeit, wo sie geeignet sind, als Sclavinnen ihrer Brod-
herren dieselben zu verwerthen.

Wie der Phallusdienst, welcher nebst seinen früher vielver-
breiteten Symbolen seit der Regierung Meiji's in Folge des fremden
Einflusses ganz beseitigt ist, dem Shintoismus angehörte, so scheint
dieser Ahnencultus auch die Yoshiwaras, wenn nicht direct begünstigt,
so doch sehr milde beurteilt zu haben. Wie wäre es anders möglich,
dass noch heutiges Tages der Weg zum grössten Heiligthum des
Landes, dem Tempel der Sonnengöttin Tensho Daijin zu Yamada in
Ise, durch ein im ganzen Lande berühmtes Yoshiwara führt? -- Doch
auch der entartete Buddhismus liess Aehnliches zu, so in Niigata,
wo die Tera-machi (Tempelstrasse) auf der einen Seite eine Reihe
Buddhatempel, auf der anderen die Häuser des Freudenfeldes auf-
weist. In Sendai aber stehen die letzteren ebenfalls in der Haupt-
strasse der Stadt neben Post- und Telegraphenamt und den ersten
Kaufmannsläden als ebenbürtige Geschäfte. Dort musste der Ver-
fasser im Herbst 1874 mit einer Yadoya dritten Ranges vorlieb nehmen,
um in einem anständigen Gasthause wohnen zu können.

Dies Alles und vieles Andere beweist uns, dass die Japaner in
diesen Dingen noch auf einer sehr niedrigen Stufe sittlicher Ent-
wickelung stehen und geschlechtliche Excesse nach ihrem sinnlichen
Standpunkte milde beurteilen. Wenn Eltern ihre erwachsenen Söhne
zur Enthaltsamkeit in diesen Dingen ermahnen und ein Sprichwort
sagt: "Hüte dich vor schönen Weibern wie vor Cayenne-Pfeffer", so
liegt diesen Mahnungen meist kein hohes sittliches Motiv zu Grunde,
sondern nur der Gedanke an die weit verbreiteten ansteckenden Krank-
heiten, dem auch ein anderes Sprüchwort, welches übersetzt lautet:
"Vergnügen ist der Sorge Kern", Worte leiht.

4. Die Familie. Adoption. Erziehung und Unterricht etc.

Yoshiwaras (Freudenfelder) nennt man in Japan die Stadt-
theile und oft auch die einzelnen, meist verhältnissmässig grossen
und stattlichen Häuser, welche der Aphrodite gewidmet sind. Nach
dem Urteile Aller, welche die einschlagenden Verhältnisse genauer
kennen, erscheint in Japan das gefallene Frauenzimmer nie auf einer
so niedrigen, rohen Stufe, wie in unseren grossen Städten. Ander-
seits werden die Bewohnerinnen der Yoshiwaras vom besseren Theile
der Gesellschaft nicht verachtet, sondern bemitleidet, weiss man doch,
dass sie nicht aus eigener Schuld und Neigung ihrem niedrigen Ge-
werbe obliegen, sondern nach dem Willen ihrer Eltern oder nächsten
Verwandten, die sie meist schon in zarter Jugend an die Besitzer
der öffentlichen Häuser verkauften, wo sie in verschiedenen Dingen
unterrichtet werden, namentlich aber in den Künsten der Aspasia,
bis zu der Zeit, wo sie geeignet sind, als Sclavinnen ihrer Brod-
herren dieselben zu verwerthen.

Wie der Phallusdienst, welcher nebst seinen früher vielver-
breiteten Symbolen seit der Regierung Meiji’s in Folge des fremden
Einflusses ganz beseitigt ist, dem Shintôismus angehörte, so scheint
dieser Ahnencultus auch die Yoshiwaras, wenn nicht direct begünstigt,
so doch sehr milde beurteilt zu haben. Wie wäre es anders möglich,
dass noch heutiges Tages der Weg zum grössten Heiligthum des
Landes, dem Tempel der Sonnengöttin Tenshô Daijin zu Yamada in
Ise, durch ein im ganzen Lande berühmtes Yoshiwara führt? — Doch
auch der entartete Buddhismus liess Aehnliches zu, so in Niigata,
wo die Tera-machi (Tempelstrasse) auf der einen Seite eine Reihe
Buddhatempel, auf der anderen die Häuser des Freudenfeldes auf-
weist. In Sendai aber stehen die letzteren ebenfalls in der Haupt-
strasse der Stadt neben Post- und Telegraphenamt und den ersten
Kaufmannsläden als ebenbürtige Geschäfte. Dort musste der Ver-
fasser im Herbst 1874 mit einer Yadoya dritten Ranges vorlieb nehmen,
um in einem anständigen Gasthause wohnen zu können.

Dies Alles und vieles Andere beweist uns, dass die Japaner in
diesen Dingen noch auf einer sehr niedrigen Stufe sittlicher Ent-
wickelung stehen und geschlechtliche Excesse nach ihrem sinnlichen
Standpunkte milde beurteilen. Wenn Eltern ihre erwachsenen Söhne
zur Enthaltsamkeit in diesen Dingen ermahnen und ein Sprichwort
sagt: »Hüte dich vor schönen Weibern wie vor Cayenne-Pfeffer«, so
liegt diesen Mahnungen meist kein hohes sittliches Motiv zu Grunde,
sondern nur der Gedanke an die weit verbreiteten ansteckenden Krank-
heiten, dem auch ein anderes Sprüchwort, welches übersetzt lautet:
»Vergnügen ist der Sorge Kern«, Worte leiht.

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[501/0535] 4. Die Familie. Adoption. Erziehung und Unterricht etc. Yoshiwaras (Freudenfelder) nennt man in Japan die Stadt- theile und oft auch die einzelnen, meist verhältnissmässig grossen und stattlichen Häuser, welche der Aphrodite gewidmet sind. Nach dem Urteile Aller, welche die einschlagenden Verhältnisse genauer kennen, erscheint in Japan das gefallene Frauenzimmer nie auf einer so niedrigen, rohen Stufe, wie in unseren grossen Städten. Ander- seits werden die Bewohnerinnen der Yoshiwaras vom besseren Theile der Gesellschaft nicht verachtet, sondern bemitleidet, weiss man doch, dass sie nicht aus eigener Schuld und Neigung ihrem niedrigen Ge- werbe obliegen, sondern nach dem Willen ihrer Eltern oder nächsten Verwandten, die sie meist schon in zarter Jugend an die Besitzer der öffentlichen Häuser verkauften, wo sie in verschiedenen Dingen unterrichtet werden, namentlich aber in den Künsten der Aspasia, bis zu der Zeit, wo sie geeignet sind, als Sclavinnen ihrer Brod- herren dieselben zu verwerthen. Wie der Phallusdienst, welcher nebst seinen früher vielver- breiteten Symbolen seit der Regierung Meiji’s in Folge des fremden Einflusses ganz beseitigt ist, dem Shintôismus angehörte, so scheint dieser Ahnencultus auch die Yoshiwaras, wenn nicht direct begünstigt, so doch sehr milde beurteilt zu haben. Wie wäre es anders möglich, dass noch heutiges Tages der Weg zum grössten Heiligthum des Landes, dem Tempel der Sonnengöttin Tenshô Daijin zu Yamada in Ise, durch ein im ganzen Lande berühmtes Yoshiwara führt? — Doch auch der entartete Buddhismus liess Aehnliches zu, so in Niigata, wo die Tera-machi (Tempelstrasse) auf der einen Seite eine Reihe Buddhatempel, auf der anderen die Häuser des Freudenfeldes auf- weist. In Sendai aber stehen die letzteren ebenfalls in der Haupt- strasse der Stadt neben Post- und Telegraphenamt und den ersten Kaufmannsläden als ebenbürtige Geschäfte. Dort musste der Ver- fasser im Herbst 1874 mit einer Yadoya dritten Ranges vorlieb nehmen, um in einem anständigen Gasthause wohnen zu können. Dies Alles und vieles Andere beweist uns, dass die Japaner in diesen Dingen noch auf einer sehr niedrigen Stufe sittlicher Ent- wickelung stehen und geschlechtliche Excesse nach ihrem sinnlichen Standpunkte milde beurteilen. Wenn Eltern ihre erwachsenen Söhne zur Enthaltsamkeit in diesen Dingen ermahnen und ein Sprichwort sagt: »Hüte dich vor schönen Weibern wie vor Cayenne-Pfeffer«, so liegt diesen Mahnungen meist kein hohes sittliches Motiv zu Grunde, sondern nur der Gedanke an die weit verbreiteten ansteckenden Krank- heiten, dem auch ein anderes Sprüchwort, welches übersetzt lautet: »Vergnügen ist der Sorge Kern«, Worte leiht.

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/535>, abgerufen am 30.04.2024.