Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite



gung bis zur Abenddämmerung blieb, und dann sehr
munter erwachte. Victorin und sein Sohn kamen
zu ihm, aber er bezeigte noch viel Furcht; und such-
te nur einen Ausgang, um zu entkommen. Sie boten
ihm gekochtes Fleisch und Brodfrucht zu essen dar, aber
auch dies rührt' er nicht an, und schien zu zittern.

Jch merke wohl, mein Sohn, sprach Victorin,
was die Wilden dieser Jnsel sind. Nachtmenschen,
die, wie man glaubt, nur hie und da einzeln zufälli-
gerweise angetroffen werden: aber doch scheint mir dies
würklich eine eigene Gattung, welche durch die übri-
gen Menschen überall, wo sie solche angetroffen, vertil-
get worden, und blos noch in denen Gegenden sich auf-
hält, wo sie sich allein befunden hat. Wohlan, wir
wollen durch ein ausdrückliches Gesetz verbieten, ih-
nen irgend einen Schaden zuzufügen. Sie scheinen
nicht boshaft: wir wollen diesem seine Freyheit wie-
dergeben, dann auf unsrer Hut seyn, und sehn was
daraus erfolgen wird.

Victorin öfnete augenblicklich den Ausgang der
Grotte und der Nachtmensch floh pfeilschnell davon.
Die beyden Europäer, angethan mit ihren Flügeln
folgten, nachdem sie ihre Körbe auf einen unbesteigba-
ren Felsen gebracht hatten, ihrem Gefangenen, der
bald einen Haufen seiner Landsleute antraf. Er
blieb stehen, und ward von den andern, die alle mit
einer ausserordentlichen Heftigkeit anfingen zu kirren,
umringt. So oft der Gefangene kirrte, antworte-
ten die übrigen mit einem sehr durchdringenden
Schrey. Endlich kirrte der Gefangene wohl zehn

Minu-
H 5



gung bis zur Abenddaͤmmerung blieb, und dann ſehr
munter erwachte. Victorin und ſein Sohn kamen
zu ihm, aber er bezeigte noch viel Furcht; und ſuch-
te nur einen Ausgang, um zu entkommen. Sie boten
ihm gekochtes Fleiſch und Brodfrucht zu eſſen dar, aber
auch dies ruͤhrt’ er nicht an, und ſchien zu zittern.

Jch merke wohl, mein Sohn, ſprach Victorin,
was die Wilden dieſer Jnſel ſind. Nachtmenſchen,
die, wie man glaubt, nur hie und da einzeln zufaͤlli-
gerweiſe angetroffen werden: aber doch ſcheint mir dies
wuͤrklich eine eigene Gattung, welche durch die uͤbri-
gen Menſchen uͤberall, wo ſie ſolche angetroffen, vertil-
get worden, und blos noch in denen Gegenden ſich auf-
haͤlt, wo ſie ſich allein befunden hat. Wohlan, wir
wollen durch ein ausdruͤckliches Geſetz verbieten, ih-
nen irgend einen Schaden zuzufuͤgen. Sie ſcheinen
nicht boshaft: wir wollen dieſem ſeine Freyheit wie-
dergeben, dann auf unſrer Hut ſeyn, und ſehn was
daraus erfolgen wird.

Victorin oͤfnete augenblicklich den Ausgang der
Grotte und der Nachtmenſch floh pfeilſchnell davon.
Die beyden Europaͤer, angethan mit ihren Fluͤgeln
folgten, nachdem ſie ihre Koͤrbe auf einen unbeſteigba-
ren Felſen gebracht hatten, ihrem Gefangenen, der
bald einen Haufen ſeiner Landsleute antraf. Er
blieb ſtehen, und ward von den andern, die alle mit
einer auſſerordentlichen Heftigkeit anfingen zu kirren,
umringt. So oft der Gefangene kirrte, antworte-
ten die uͤbrigen mit einem ſehr durchdringenden
Schrey. Endlich kirrte der Gefangene wohl zehn

Minu-
H 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0129" n="121"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
gung bis zur Abendda&#x0364;mmerung blieb, und dann &#x017F;ehr<lb/>
munter erwachte. Victorin und &#x017F;ein Sohn kamen<lb/>
zu ihm, aber er bezeigte noch viel Furcht; und &#x017F;uch-<lb/>
te nur einen Ausgang, um zu entkommen. Sie boten<lb/>
ihm gekochtes Flei&#x017F;ch und Brodfrucht zu e&#x017F;&#x017F;en dar, aber<lb/>
auch dies ru&#x0364;hrt&#x2019; er nicht an, und &#x017F;chien zu zittern.</p><lb/>
          <p>Jch merke wohl, mein Sohn, &#x017F;prach Victorin,<lb/>
was die Wilden die&#x017F;er Jn&#x017F;el &#x017F;ind. Nachtmen&#x017F;chen,<lb/>
die, wie man glaubt, nur hie und da einzeln zufa&#x0364;lli-<lb/>
gerwei&#x017F;e angetroffen werden: aber doch &#x017F;cheint mir dies<lb/>
wu&#x0364;rklich eine eigene Gattung, welche durch die u&#x0364;bri-<lb/>
gen Men&#x017F;chen u&#x0364;berall, wo &#x017F;ie &#x017F;olche angetroffen, vertil-<lb/>
get worden, und blos noch in denen Gegenden &#x017F;ich auf-<lb/>
ha&#x0364;lt, wo &#x017F;ie &#x017F;ich allein befunden hat. Wohlan, wir<lb/>
wollen durch ein ausdru&#x0364;ckliches Ge&#x017F;etz verbieten, ih-<lb/>
nen irgend einen Schaden zuzufu&#x0364;gen. Sie &#x017F;cheinen<lb/>
nicht boshaft: wir wollen die&#x017F;em &#x017F;eine Freyheit wie-<lb/>
dergeben, dann auf un&#x017F;rer Hut &#x017F;eyn, und &#x017F;ehn was<lb/>
daraus erfolgen wird.</p><lb/>
          <p>Victorin o&#x0364;fnete augenblicklich den Ausgang der<lb/>
Grotte und der Nachtmen&#x017F;ch floh pfeil&#x017F;chnell davon.<lb/>
Die beyden Europa&#x0364;er, angethan mit ihren Flu&#x0364;geln<lb/>
folgten, nachdem &#x017F;ie ihre Ko&#x0364;rbe auf einen unbe&#x017F;teigba-<lb/>
ren Fel&#x017F;en gebracht hatten, ihrem Gefangenen, der<lb/>
bald einen Haufen &#x017F;einer Landsleute antraf. Er<lb/>
blieb &#x017F;tehen, und ward von den andern, die alle mit<lb/>
einer au&#x017F;&#x017F;erordentlichen Heftigkeit anfingen zu kirren,<lb/>
umringt. So oft der Gefangene kirrte, antworte-<lb/>
ten die u&#x0364;brigen mit einem &#x017F;ehr durchdringenden<lb/>
Schrey. Endlich kirrte der Gefangene wohl zehn<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 5</fw><fw place="bottom" type="catch">Minu-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[121/0129] gung bis zur Abenddaͤmmerung blieb, und dann ſehr munter erwachte. Victorin und ſein Sohn kamen zu ihm, aber er bezeigte noch viel Furcht; und ſuch- te nur einen Ausgang, um zu entkommen. Sie boten ihm gekochtes Fleiſch und Brodfrucht zu eſſen dar, aber auch dies ruͤhrt’ er nicht an, und ſchien zu zittern. Jch merke wohl, mein Sohn, ſprach Victorin, was die Wilden dieſer Jnſel ſind. Nachtmenſchen, die, wie man glaubt, nur hie und da einzeln zufaͤlli- gerweiſe angetroffen werden: aber doch ſcheint mir dies wuͤrklich eine eigene Gattung, welche durch die uͤbri- gen Menſchen uͤberall, wo ſie ſolche angetroffen, vertil- get worden, und blos noch in denen Gegenden ſich auf- haͤlt, wo ſie ſich allein befunden hat. Wohlan, wir wollen durch ein ausdruͤckliches Geſetz verbieten, ih- nen irgend einen Schaden zuzufuͤgen. Sie ſcheinen nicht boshaft: wir wollen dieſem ſeine Freyheit wie- dergeben, dann auf unſrer Hut ſeyn, und ſehn was daraus erfolgen wird. Victorin oͤfnete augenblicklich den Ausgang der Grotte und der Nachtmenſch floh pfeilſchnell davon. Die beyden Europaͤer, angethan mit ihren Fluͤgeln folgten, nachdem ſie ihre Koͤrbe auf einen unbeſteigba- ren Felſen gebracht hatten, ihrem Gefangenen, der bald einen Haufen ſeiner Landsleute antraf. Er blieb ſtehen, und ward von den andern, die alle mit einer auſſerordentlichen Heftigkeit anfingen zu kirren, umringt. So oft der Gefangene kirrte, antworte- ten die uͤbrigen mit einem ſehr durchdringenden Schrey. Endlich kirrte der Gefangene wohl zehn Minu- H 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/129
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/129>, abgerufen am 14.05.2024.