Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Geschichte

Sie sagte: "ich will hinunter gehen, und
"dich entschuldigen, daß du diesen Nachmittag
"nicht zum Thee kommst: denn ich sehe wohl,
"daß noch etwas Ueberwindung bey dir erfodert
"wird. Jch verdenke dir dieses nicht, und ich will
"auch mit deiner natürlichen Blödigkeit Geduld
"haben. Du solst also nicht herunter kommen,
"wenn du nicht selbst wilst. Dis eintzige verlan-
"ge ich, daß du mich durch deine Aufführung
"nicht zur Lügnerin machen solst, wenn du zum
"Abendessen kommen wirst. Führe dich auch ge-
"gen deinen Bruder und Schwester nicht anders
"auf, als du sonst gethan hast: denn aus deinem
"Betragen gegen sie werden wir abnehmen, ob
"du uns mit Freuden gehorsam bist, oder nicht.
"Du siehst, daß ich dir als eine Freundin rathe, da
"ich dir als Mutter befehlen könte. Lebe wohl,
"mein Hertz." Mit diesen Worten küssete sie
mich, und wollte weggehen.

"Meine liebste Mutter," sagte ich, "ver-
"geben sie mir: ihr Hertz kan gewiß nicht glau-
"ben, daß ich jemals so einen Mann haben
"will."

Sie ward sehr ungehalten, und man konte
an ihr mercken, daß es sie verdroß, sich in ihrer
Hoffnung betrogen zu sehen. Sie drohete mir,
sie wollte mich alles allein mit meinem Vater und
seinen Brüdern ausmachen lassen. Sie hielt mir
offenhertzig und freymüthig vor: ich solte beden-
cken, wie ich meinem Bruder und meiner Schwe-
ster das Schwerdt in die Hände gäbe, wenn sie

mich
Die Geſchichte

Sie ſagte: „ich will hinunter gehen, und
„dich entſchuldigen, daß du dieſen Nachmittag
„nicht zum Thee kommſt: denn ich ſehe wohl,
„daß noch etwas Ueberwindung bey dir erfodert
„wird. Jch verdenke dir dieſes nicht, und ich will
„auch mit deiner natuͤrlichen Bloͤdigkeit Geduld
„haben. Du ſolſt alſo nicht herunter kommen,
„wenn du nicht ſelbſt wilſt. Dis eintzige verlan-
„ge ich, daß du mich durch deine Auffuͤhrung
„nicht zur Luͤgnerin machen ſolſt, wenn du zum
„Abendeſſen kommen wirſt. Fuͤhre dich auch ge-
„gen deinen Bruder und Schweſter nicht anders
„auf, als du ſonſt gethan haſt: denn aus deinem
„Betragen gegen ſie werden wir abnehmen, ob
„du uns mit Freuden gehorſam biſt, oder nicht.
„Du ſiehſt, daß ich dir als eine Freundin rathe, da
„ich dir als Mutter befehlen koͤnte. Lebe wohl,
„mein Hertz.„ Mit dieſen Worten kuͤſſete ſie
mich, und wollte weggehen.

„Meine liebſte Mutter,„ ſagte ich, „ver-
„geben ſie mir: ihr Hertz kan gewiß nicht glau-
„ben, daß ich jemals ſo einen Mann haben
„will.„

Sie ward ſehr ungehalten, und man konte
an ihr mercken, daß es ſie verdroß, ſich in ihrer
Hoffnung betrogen zu ſehen. Sie drohete mir,
ſie wollte mich alles allein mit meinem Vater und
ſeinen Bruͤdern ausmachen laſſen. Sie hielt mir
offenhertzig und freymuͤthig vor: ich ſolte beden-
cken, wie ich meinem Bruder und meiner Schwe-
ſter das Schwerdt in die Haͤnde gaͤbe, wenn ſie

mich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <pb facs="#f0204" n="184"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi> </hi> </fw><lb/>
        <p>Sie &#x017F;agte: &#x201E;ich will hinunter gehen, und<lb/>
&#x201E;dich ent&#x017F;chuldigen, daß du die&#x017F;en Nachmittag<lb/>
&#x201E;nicht zum Thee komm&#x017F;t: denn ich &#x017F;ehe wohl,<lb/>
&#x201E;daß noch etwas Ueberwindung bey dir erfodert<lb/>
&#x201E;wird. Jch verdenke dir die&#x017F;es nicht, und ich will<lb/>
&#x201E;auch mit deiner natu&#x0364;rlichen Blo&#x0364;digkeit Geduld<lb/>
&#x201E;haben. Du &#x017F;ol&#x017F;t al&#x017F;o nicht herunter kommen,<lb/>
&#x201E;wenn du nicht &#x017F;elb&#x017F;t wil&#x017F;t. Dis eintzige verlan-<lb/>
&#x201E;ge ich, daß du mich durch deine Auffu&#x0364;hrung<lb/>
&#x201E;nicht zur Lu&#x0364;gnerin machen &#x017F;ol&#x017F;t, wenn du zum<lb/>
&#x201E;Abende&#x017F;&#x017F;en kommen wir&#x017F;t. Fu&#x0364;hre dich auch ge-<lb/>
&#x201E;gen deinen Bruder und Schwe&#x017F;ter nicht anders<lb/>
&#x201E;auf, als du &#x017F;on&#x017F;t gethan ha&#x017F;t: denn aus deinem<lb/>
&#x201E;Betragen gegen &#x017F;ie werden wir abnehmen, ob<lb/>
&#x201E;du uns mit Freuden gehor&#x017F;am bi&#x017F;t, oder nicht.<lb/>
&#x201E;Du &#x017F;ieh&#x017F;t, daß ich dir als eine Freundin rathe, da<lb/>
&#x201E;ich dir als Mutter befehlen ko&#x0364;nte. Lebe wohl,<lb/>
&#x201E;mein Hertz.&#x201E; Mit die&#x017F;en Worten ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;ete &#x017F;ie<lb/>
mich, und wollte weggehen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Meine lieb&#x017F;te Mutter,&#x201E; &#x017F;agte ich, &#x201E;ver-<lb/>
&#x201E;geben &#x017F;ie mir: ihr Hertz kan gewiß nicht glau-<lb/>
&#x201E;ben, daß ich jemals &#x017F;o einen Mann haben<lb/>
&#x201E;will.&#x201E;</p><lb/>
        <p>Sie ward &#x017F;ehr ungehalten, und man konte<lb/>
an ihr mercken, daß es &#x017F;ie verdroß, &#x017F;ich in ihrer<lb/>
Hoffnung betrogen zu &#x017F;ehen. Sie drohete mir,<lb/>
&#x017F;ie wollte mich alles allein mit meinem Vater und<lb/>
&#x017F;einen Bru&#x0364;dern ausmachen la&#x017F;&#x017F;en. Sie hielt mir<lb/>
offenhertzig und freymu&#x0364;thig vor: ich &#x017F;olte beden-<lb/>
cken, wie ich meinem Bruder und meiner Schwe-<lb/>
&#x017F;ter das Schwerdt in die Ha&#x0364;nde ga&#x0364;be, wenn &#x017F;ie<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mich</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0204] Die Geſchichte Sie ſagte: „ich will hinunter gehen, und „dich entſchuldigen, daß du dieſen Nachmittag „nicht zum Thee kommſt: denn ich ſehe wohl, „daß noch etwas Ueberwindung bey dir erfodert „wird. Jch verdenke dir dieſes nicht, und ich will „auch mit deiner natuͤrlichen Bloͤdigkeit Geduld „haben. Du ſolſt alſo nicht herunter kommen, „wenn du nicht ſelbſt wilſt. Dis eintzige verlan- „ge ich, daß du mich durch deine Auffuͤhrung „nicht zur Luͤgnerin machen ſolſt, wenn du zum „Abendeſſen kommen wirſt. Fuͤhre dich auch ge- „gen deinen Bruder und Schweſter nicht anders „auf, als du ſonſt gethan haſt: denn aus deinem „Betragen gegen ſie werden wir abnehmen, ob „du uns mit Freuden gehorſam biſt, oder nicht. „Du ſiehſt, daß ich dir als eine Freundin rathe, da „ich dir als Mutter befehlen koͤnte. Lebe wohl, „mein Hertz.„ Mit dieſen Worten kuͤſſete ſie mich, und wollte weggehen. „Meine liebſte Mutter,„ ſagte ich, „ver- „geben ſie mir: ihr Hertz kan gewiß nicht glau- „ben, daß ich jemals ſo einen Mann haben „will.„ Sie ward ſehr ungehalten, und man konte an ihr mercken, daß es ſie verdroß, ſich in ihrer Hoffnung betrogen zu ſehen. Sie drohete mir, ſie wollte mich alles allein mit meinem Vater und ſeinen Bruͤdern ausmachen laſſen. Sie hielt mir offenhertzig und freymuͤthig vor: ich ſolte beden- cken, wie ich meinem Bruder und meiner Schwe- ſter das Schwerdt in die Haͤnde gaͤbe, wenn ſie mich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/204
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/204>, abgerufen am 02.05.2024.