Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geschichte
unerträglich ist? Nein gewiß nicht! Sein gan-
tzes Betragen zeiget deutlich, daß er mich als eine
Person ansiehet, die ihm im Wege stehet.

Die Gerechtigkeit selbst giebt mir einen Beruf,
für einen Mann zu reden, den mein Bruder ge-
nug gereitzt hat, und der dennoch nicht alles ge-
than hat, was er thun konte, und was mein
Bruder gethan haben würde. Jch glaube des-
wegen, es würde nicht schlimm seyn, ihnen ein
kleines Schrecken einzujagen, und sie mercken zu
lassen, daß die bisher angewandten Mittel ihrem
Endzweck gerade zuwider wären.

Jst es endlich wol eine grosse Schmeicheley
oder ein Lob für Herrn Lovelace/ wenn ich geste-
he, daß ich ihn dem Menschen vorziehe, mit dem
sie mich bisher geschrecket haben. Fräulein Howe
(dachte ich) tadelt mich deswegen, daß ich mich
andern allzusehr zu Füssen werfe, und mir durch
meine Gedult mehr Beleidigungen von meinem
Bruder zuziehe. Jch will mir jetzt diese werthe
Freundin zum Muster vorstellen; und um aller
vorhin erwähnten Ursachen willen es versuchen,
ob ich etwas dadurch gewinnen werde, wenn ich
ein wenig von ihrem Muth annehme, es mag
mich auch so sonderbar kleiden als es will.

So dachte ich, und schrieb folgendermassen
an meinen Bruder, und an meine Schwester.

Mein Brief an meinen Bruder.

Da mir so begegnet wird, wie mir bisher be-
gegnet ist, und da ihr grossentheils, wo nicht

ein-

Die Geſchichte
unertraͤglich iſt? Nein gewiß nicht! Sein gan-
tzes Betragen zeiget deutlich, daß er mich als eine
Perſon anſiehet, die ihm im Wege ſtehet.

Die Gerechtigkeit ſelbſt giebt mir einen Beruf,
fuͤr einen Mann zu reden, den mein Bruder ge-
nug gereitzt hat, und der dennoch nicht alles ge-
than hat, was er thun konte, und was mein
Bruder gethan haben wuͤrde. Jch glaube des-
wegen, es wuͤrde nicht ſchlimm ſeyn, ihnen ein
kleines Schrecken einzujagen, und ſie mercken zu
laſſen, daß die bisher angewandten Mittel ihrem
Endzweck gerade zuwider waͤren.

Jſt es endlich wol eine groſſe Schmeicheley
oder ein Lob fuͤr Herrn Lovelace/ wenn ich geſte-
he, daß ich ihn dem Menſchen vorziehe, mit dem
ſie mich bisher geſchrecket haben. Fraͤulein Howe
(dachte ich) tadelt mich deswegen, daß ich mich
andern allzuſehr zu Fuͤſſen werfe, und mir durch
meine Gedult mehr Beleidigungen von meinem
Bruder zuziehe. Jch will mir jetzt dieſe werthe
Freundin zum Muſter vorſtellen; und um aller
vorhin erwaͤhnten Urſachen willen es verſuchen,
ob ich etwas dadurch gewinnen werde, wenn ich
ein wenig von ihrem Muth annehme, es mag
mich auch ſo ſonderbar kleiden als es will.

So dachte ich, und ſchrieb folgendermaſſen
an meinen Bruder, und an meine Schweſter.

Mein Brief an meinen Bruder.

Da mir ſo begegnet wird, wie mir bisher be-
gegnet iſt, und da ihr groſſentheils, wo nicht

ein-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0326" n="306"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi></hi></fw><lb/>
unertra&#x0364;glich i&#x017F;t? Nein gewiß nicht! Sein gan-<lb/>
tzes Betragen zeiget deutlich, daß er mich als eine<lb/>
Per&#x017F;on an&#x017F;iehet, die ihm im Wege &#x017F;tehet.</p><lb/>
          <p>Die Gerechtigkeit &#x017F;elb&#x017F;t giebt mir einen Beruf,<lb/>
fu&#x0364;r einen Mann zu reden, den mein Bruder ge-<lb/>
nug gereitzt hat, und der dennoch nicht alles ge-<lb/>
than hat, was er thun konte, und was mein<lb/>
Bruder gethan haben wu&#x0364;rde. Jch glaube des-<lb/>
wegen, es wu&#x0364;rde nicht &#x017F;chlimm &#x017F;eyn, ihnen ein<lb/>
kleines Schrecken einzujagen, und &#x017F;ie mercken zu<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, daß die bisher angewandten Mittel ihrem<lb/>
Endzweck gerade zuwider wa&#x0364;ren.</p><lb/>
          <p>J&#x017F;t es endlich wol eine gro&#x017F;&#x017F;e Schmeicheley<lb/>
oder ein Lob fu&#x0364;r Herrn <hi rendition="#fr">Lovelace/</hi> wenn ich ge&#x017F;te-<lb/>
he, daß ich ihn dem Men&#x017F;chen vorziehe, mit dem<lb/>
&#x017F;ie mich bisher ge&#x017F;chrecket haben. Fra&#x0364;ulein <hi rendition="#fr">Howe</hi><lb/>
(dachte ich) tadelt mich deswegen, daß ich mich<lb/>
andern allzu&#x017F;ehr zu Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en werfe, und mir durch<lb/>
meine Gedult mehr Beleidigungen von meinem<lb/>
Bruder zuziehe. Jch will mir jetzt die&#x017F;e werthe<lb/>
Freundin zum Mu&#x017F;ter vor&#x017F;tellen; und um aller<lb/>
vorhin erwa&#x0364;hnten Ur&#x017F;achen willen es ver&#x017F;uchen,<lb/>
ob ich etwas dadurch gewinnen werde, wenn ich<lb/>
ein wenig von ihrem Muth annehme, es mag<lb/>
mich auch &#x017F;o &#x017F;onderbar kleiden als es will.</p><lb/>
          <p>So dachte ich, und &#x017F;chrieb folgenderma&#x017F;&#x017F;en<lb/>
an meinen Bruder, und an meine Schwe&#x017F;ter.</p><lb/>
          <floatingText>
            <body>
              <salute> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#fr">Mein Brief an meinen Bruder.</hi> </hi> </salute><lb/>
              <p>Da mir &#x017F;o begegnet wird, wie mir bisher be-<lb/>
gegnet i&#x017F;t, und da ihr gro&#x017F;&#x017F;entheils, wo nicht<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ein-</fw><lb/></p>
            </body>
          </floatingText>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[306/0326] Die Geſchichte unertraͤglich iſt? Nein gewiß nicht! Sein gan- tzes Betragen zeiget deutlich, daß er mich als eine Perſon anſiehet, die ihm im Wege ſtehet. Die Gerechtigkeit ſelbſt giebt mir einen Beruf, fuͤr einen Mann zu reden, den mein Bruder ge- nug gereitzt hat, und der dennoch nicht alles ge- than hat, was er thun konte, und was mein Bruder gethan haben wuͤrde. Jch glaube des- wegen, es wuͤrde nicht ſchlimm ſeyn, ihnen ein kleines Schrecken einzujagen, und ſie mercken zu laſſen, daß die bisher angewandten Mittel ihrem Endzweck gerade zuwider waͤren. Jſt es endlich wol eine groſſe Schmeicheley oder ein Lob fuͤr Herrn Lovelace/ wenn ich geſte- he, daß ich ihn dem Menſchen vorziehe, mit dem ſie mich bisher geſchrecket haben. Fraͤulein Howe (dachte ich) tadelt mich deswegen, daß ich mich andern allzuſehr zu Fuͤſſen werfe, und mir durch meine Gedult mehr Beleidigungen von meinem Bruder zuziehe. Jch will mir jetzt dieſe werthe Freundin zum Muſter vorſtellen; und um aller vorhin erwaͤhnten Urſachen willen es verſuchen, ob ich etwas dadurch gewinnen werde, wenn ich ein wenig von ihrem Muth annehme, es mag mich auch ſo ſonderbar kleiden als es will. So dachte ich, und ſchrieb folgendermaſſen an meinen Bruder, und an meine Schweſter. Mein Brief an meinen Bruder. Da mir ſo begegnet wird, wie mir bisher be- gegnet iſt, und da ihr groſſentheils, wo nicht ein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/326
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/326>, abgerufen am 28.04.2024.