Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



Strafe, die ich ihm wünsche - - Jedoch ich muß
mehr zurückhalten: wo sie ihm alles schreiben,
was ich sage.

Jch erhob ihre unumschränkte Gütigkeit - -
Wie konnte ich anders: ob ich sie gleich dadurch
ins Gesicht lobte!

Keine Gütigkeit in diesem Stücke! sprach
sie - - Es wäre eine Gemüthsverfassung, welche
sie um ihrer selbst willen zu erlangen bemüht ge-
wesen. Sie litte zu viel, weil man ihr Barm-
herzigkeit versagte, daß sie dieselbe einem reuevol-
len Herzen nicht wünschen sollte - - Er scheinet
reuevoll zu seyn, setzte sie hinzu: und es kommt
mir nicht zu, weiter als nach den äußerlichen Zei-
chen zu urtheilen. - - Jst er es nicht: so betrügt
er sich selbst mehr, als sonst jemand.

Sie befand sich so übel, daß dieß alles war,
was bey dieser Gelegenheit vorfiel.

Was für einen feinen Stoff zu einem Trauerspiel
würde das Unrecht, welches dieser Fräulein wi-
derfahren ist, und ihr Bezeigen unter demselben,
so wohl in Ansehung ihrer unversöhnlichen Freun-
de, als in Ansehung ihres Verfolgers, an die
Hand geben! Jedoch würde in Betrachtung der
Sittenlehre ein starker Einwurf dagegen zu ma-
chen seyn (*); denn hier wird die Tugend ge-

straft
(*) Der Einwurf des Hernn Belfords, daß die Tu-
gend in einem Trauerspiel nicht leiden müsse, ist
nicht wohl bedacht. Monimia in dem Trauerspiel
die Wayse; Belvedera in dem erhaltenen Vene-
dig;



Strafe, die ich ihm wuͤnſche ‒ ‒ Jedoch ich muß
mehr zuruͤckhalten: wo ſie ihm alles ſchreiben,
was ich ſage.

Jch erhob ihre unumſchraͤnkte Guͤtigkeit ‒ ‒
Wie konnte ich anders: ob ich ſie gleich dadurch
ins Geſicht lobte!

Keine Guͤtigkeit in dieſem Stuͤcke! ſprach
ſie ‒ ‒ Es waͤre eine Gemuͤthsverfaſſung, welche
ſie um ihrer ſelbſt willen zu erlangen bemuͤht ge-
weſen. Sie litte zu viel, weil man ihr Barm-
herzigkeit verſagte, daß ſie dieſelbe einem reuevol-
len Herzen nicht wuͤnſchen ſollte ‒ ‒ Er ſcheinet
reuevoll zu ſeyn, ſetzte ſie hinzu: und es kommt
mir nicht zu, weiter als nach den aͤußerlichen Zei-
chen zu urtheilen. ‒ ‒ Jſt er es nicht: ſo betruͤgt
er ſich ſelbſt mehr, als ſonſt jemand.

Sie befand ſich ſo uͤbel, daß dieß alles war,
was bey dieſer Gelegenheit vorfiel.

Was fuͤr einen feinen Stoff zu einem Trauerſpiel
wuͤrde das Unrecht, welches dieſer Fraͤulein wi-
derfahren iſt, und ihr Bezeigen unter demſelben,
ſo wohl in Anſehung ihrer unverſoͤhnlichen Freun-
de, als in Anſehung ihres Verfolgers, an die
Hand geben! Jedoch wuͤrde in Betrachtung der
Sittenlehre ein ſtarker Einwurf dagegen zu ma-
chen ſeyn (*); denn hier wird die Tugend ge-

ſtraft
(*) Der Einwurf des Hernn Belfords, daß die Tu-
gend in einem Trauerſpiel nicht leiden muͤſſe, iſt
nicht wohl bedacht. Monimia in dem Trauerſpiel
die Wayſe; Belvedera in dem erhaltenen Vene-
dig;
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0784" n="778"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Strafe, die ich ihm wu&#x0364;n&#x017F;che &#x2012; &#x2012; Jedoch ich muß<lb/>
mehr zuru&#x0364;ckhalten: wo &#x017F;ie ihm alles &#x017F;chreiben,<lb/>
was ich &#x017F;age.</p><lb/>
          <p>Jch erhob ihre unum&#x017F;chra&#x0364;nkte Gu&#x0364;tigkeit &#x2012; &#x2012;<lb/>
Wie konnte ich anders: ob ich &#x017F;ie gleich dadurch<lb/>
ins Ge&#x017F;icht lobte!</p><lb/>
          <p>Keine Gu&#x0364;tigkeit in die&#x017F;em Stu&#x0364;cke! &#x017F;prach<lb/>
&#x017F;ie &#x2012; &#x2012; Es wa&#x0364;re eine Gemu&#x0364;thsverfa&#x017F;&#x017F;ung, welche<lb/>
&#x017F;ie um ihrer &#x017F;elb&#x017F;t willen zu erlangen bemu&#x0364;ht ge-<lb/>
we&#x017F;en. Sie litte zu viel, weil man ihr Barm-<lb/>
herzigkeit ver&#x017F;agte, daß &#x017F;ie die&#x017F;elbe einem reuevol-<lb/>
len Herzen nicht wu&#x0364;n&#x017F;chen &#x017F;ollte &#x2012; &#x2012; Er <hi rendition="#fr">&#x017F;cheinet</hi><lb/>
reuevoll zu &#x017F;eyn, &#x017F;etzte &#x017F;ie hinzu: und es kommt<lb/>
mir nicht zu, weiter als nach den a&#x0364;ußerlichen Zei-<lb/>
chen zu urtheilen. &#x2012; &#x2012; J&#x017F;t er es nicht: &#x017F;o betru&#x0364;gt<lb/>
er &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t mehr, als &#x017F;on&#x017F;t jemand.</p><lb/>
          <p>Sie befand &#x017F;ich &#x017F;o u&#x0364;bel, daß dieß alles war,<lb/>
was bey die&#x017F;er Gelegenheit vorfiel.</p><lb/>
          <p>Was fu&#x0364;r einen feinen Stoff zu einem Trauer&#x017F;piel<lb/>
wu&#x0364;rde das Unrecht, welches die&#x017F;er Fra&#x0364;ulein wi-<lb/>
derfahren i&#x017F;t, und ihr Bezeigen unter dem&#x017F;elben,<lb/>
&#x017F;o wohl in An&#x017F;ehung ihrer unver&#x017F;o&#x0364;hnlichen Freun-<lb/>
de, als in An&#x017F;ehung ihres Verfolgers, an die<lb/>
Hand geben! Jedoch wu&#x0364;rde in Betrachtung der<lb/>
Sittenlehre ein &#x017F;tarker Einwurf dagegen zu ma-<lb/>
chen &#x017F;eyn <note xml:id="seg2pn_5_1" next="#seg2pn_5_2" place="foot" n="(*)">Der Einwurf des Hernn Belfords, daß die Tu-<lb/>
gend in einem Trauer&#x017F;piel nicht leiden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, i&#x017F;t<lb/>
nicht wohl bedacht. Monimia in dem Trauer&#x017F;piel<lb/>
die Way&#x017F;e; Belvedera in dem erhaltenen Vene-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">dig;</fw></note>; denn hier wird die Tugend ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;traft</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[778/0784] Strafe, die ich ihm wuͤnſche ‒ ‒ Jedoch ich muß mehr zuruͤckhalten: wo ſie ihm alles ſchreiben, was ich ſage. Jch erhob ihre unumſchraͤnkte Guͤtigkeit ‒ ‒ Wie konnte ich anders: ob ich ſie gleich dadurch ins Geſicht lobte! Keine Guͤtigkeit in dieſem Stuͤcke! ſprach ſie ‒ ‒ Es waͤre eine Gemuͤthsverfaſſung, welche ſie um ihrer ſelbſt willen zu erlangen bemuͤht ge- weſen. Sie litte zu viel, weil man ihr Barm- herzigkeit verſagte, daß ſie dieſelbe einem reuevol- len Herzen nicht wuͤnſchen ſollte ‒ ‒ Er ſcheinet reuevoll zu ſeyn, ſetzte ſie hinzu: und es kommt mir nicht zu, weiter als nach den aͤußerlichen Zei- chen zu urtheilen. ‒ ‒ Jſt er es nicht: ſo betruͤgt er ſich ſelbſt mehr, als ſonſt jemand. Sie befand ſich ſo uͤbel, daß dieß alles war, was bey dieſer Gelegenheit vorfiel. Was fuͤr einen feinen Stoff zu einem Trauerſpiel wuͤrde das Unrecht, welches dieſer Fraͤulein wi- derfahren iſt, und ihr Bezeigen unter demſelben, ſo wohl in Anſehung ihrer unverſoͤhnlichen Freun- de, als in Anſehung ihres Verfolgers, an die Hand geben! Jedoch wuͤrde in Betrachtung der Sittenlehre ein ſtarker Einwurf dagegen zu ma- chen ſeyn (*); denn hier wird die Tugend ge- ſtraft (*) Der Einwurf des Hernn Belfords, daß die Tu- gend in einem Trauerſpiel nicht leiden muͤſſe, iſt nicht wohl bedacht. Monimia in dem Trauerſpiel die Wayſe; Belvedera in dem erhaltenen Vene- dig;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/784
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 778. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/784>, abgerufen am 01.05.2024.