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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
von Pflanzenornamenten bezeichnet. In der That haben sich, trotz
des reichen Materials, das in den seither verflossenen zwanzig Jahren
zu Tage gefördert worden ist, nur höchst vereinzelte Beispiele60) un-
zweifelhaft pflanzlicher Motive auf geometrischen Vasen der Dipylon-
zeit gefunden. Freilich Goodyear, der im fortlaufenden Zickzack bloss
verkümmerte Lotusblüthenreihen erblickt, führt den Dipylonstil ebenso
gut wie den nordisch-prähistorischen in allem Wesentlichen auf egyp-
tische Wurzel zurück. Aber selbst wenn dem so wäre, würde der
Dipylonstil für unsere augenblickliche Aufgabe, für die Darlegung der
Entwicklung des Pflanzenornaments und der Pflanzenranke keine posi-
tive Bedeutung haben, da an den angeblichen Rückschlag in's Geome-
trische keine fruchtbare Entwicklung des Pflanzlichen anknüpfen
konnte. Der Dipylonstil musste aber nichts desto weniger an dieser
Stelle zur Sprache gebracht werden, um die Unterbrechung der "myke-
nischen" Entwicklung und das Nachfolgende überhaupt zu erklären.
Denn selbst auf solchen Punkten des späteren Hellas, wo sich myke-
nische Ueberlieferungen ziemlich treu erhalten haben, hat sich der Ein-
fluss des Dipylon in tiefgreifender Weise bemerkbar gemacht, so z. B.
auf der Insel Melos, auf deren Vasen wir neben unverkennbar myke-
nischen Ueberlieferungen die füllenden Streumuster des geometrischen
Horror vacui, des primitiven Schmückungstriebes finden werden.

Die bisherigen Funde haben ergeben, dass sich die Invasion des
geometrischen Stils über alle Landschaften erstreckt hat, wo später
Sitze griechischer Kultur und Kunst gewesen sind: am stärksten auf
dem europäischen Festlande, in stetig abnehmender Intensität nach
Osten hin bis gegen Cypern. Man hat daraus auch eine Antwort auf
die ethnographische Frage konstruirt. Die Träger des Dipylon wären
hiernach ein Volk gewesen, das nicht aus dem Orient, sondern über
europäische Landschaften, also wohl über die Balkangegenden nach
Griechenland eingewandert ist. Vielfach hat man hiebei an die Wan-
derung der Dorer gedacht, was wiederum den folgerichtigen Schluss
nach ziehen musste, dass die Träger der mykenischen Kunst in Grie-
chenland die Achäer, also ebenfalls Griechen, gewesen sein müssten.
Dies konnten diejenigen nicht zugeben, die in den Trägern der myke-
nischen Kultur die Karer erblicken wollten. Diese letzteren stützten
ihre Annahme hauptsächlich auf Gründe, die ausserhalb der Sphäre

60) So an einer Vase aus Kameiros, Arch. Jahrb. 1886, S. 135, welchen
Umstand schon Furtwängler hervorgehoben hat.

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
von Pflanzenornamenten bezeichnet. In der That haben sich, trotz
des reichen Materials, das in den seither verflossenen zwanzig Jahren
zu Tage gefördert worden ist, nur höchst vereinzelte Beispiele60) un-
zweifelhaft pflanzlicher Motive auf geometrischen Vasen der Dipylon-
zeit gefunden. Freilich Goodyear, der im fortlaufenden Zickzack bloss
verkümmerte Lotusblüthenreihen erblickt, führt den Dipylonstil ebenso
gut wie den nordisch-prähistorischen in allem Wesentlichen auf egyp-
tische Wurzel zurück. Aber selbst wenn dem so wäre, würde der
Dipylonstil für unsere augenblickliche Aufgabe, für die Darlegung der
Entwicklung des Pflanzenornaments und der Pflanzenranke keine posi-
tive Bedeutung haben, da an den angeblichen Rückschlag in’s Geome-
trische keine fruchtbare Entwicklung des Pflanzlichen anknüpfen
konnte. Der Dipylonstil musste aber nichts desto weniger an dieser
Stelle zur Sprache gebracht werden, um die Unterbrechung der „myke-
nischen“ Entwicklung und das Nachfolgende überhaupt zu erklären.
Denn selbst auf solchen Punkten des späteren Hellas, wo sich myke-
nische Ueberlieferungen ziemlich treu erhalten haben, hat sich der Ein-
fluss des Dipylon in tiefgreifender Weise bemerkbar gemacht, so z. B.
auf der Insel Melos, auf deren Vasen wir neben unverkennbar myke-
nischen Ueberlieferungen die füllenden Streumuster des geometrischen
Horror vacui, des primitiven Schmückungstriebes finden werden.

Die bisherigen Funde haben ergeben, dass sich die Invasion des
geometrischen Stils über alle Landschaften erstreckt hat, wo später
Sitze griechischer Kultur und Kunst gewesen sind: am stärksten auf
dem europäischen Festlande, in stetig abnehmender Intensität nach
Osten hin bis gegen Cypern. Man hat daraus auch eine Antwort auf
die ethnographische Frage konstruirt. Die Träger des Dipylon wären
hiernach ein Volk gewesen, das nicht aus dem Orient, sondern über
europäische Landschaften, also wohl über die Balkangegenden nach
Griechenland eingewandert ist. Vielfach hat man hiebei an die Wan-
derung der Dorer gedacht, was wiederum den folgerichtigen Schluss
nach ziehen musste, dass die Träger der mykenischen Kunst in Grie-
chenland die Achäer, also ebenfalls Griechen, gewesen sein müssten.
Dies konnten diejenigen nicht zugeben, die in den Trägern der myke-
nischen Kultur die Karer erblicken wollten. Diese letzteren stützten
ihre Annahme hauptsächlich auf Gründe, die ausserhalb der Sphäre

60) So an einer Vase aus Kameiros, Arch. Jahrb. 1886, S. 135, welchen
Umstand schon Furtwängler hervorgehoben hat.
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[152/0178] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. von Pflanzenornamenten bezeichnet. In der That haben sich, trotz des reichen Materials, das in den seither verflossenen zwanzig Jahren zu Tage gefördert worden ist, nur höchst vereinzelte Beispiele 60) un- zweifelhaft pflanzlicher Motive auf geometrischen Vasen der Dipylon- zeit gefunden. Freilich Goodyear, der im fortlaufenden Zickzack bloss verkümmerte Lotusblüthenreihen erblickt, führt den Dipylonstil ebenso gut wie den nordisch-prähistorischen in allem Wesentlichen auf egyp- tische Wurzel zurück. Aber selbst wenn dem so wäre, würde der Dipylonstil für unsere augenblickliche Aufgabe, für die Darlegung der Entwicklung des Pflanzenornaments und der Pflanzenranke keine posi- tive Bedeutung haben, da an den angeblichen Rückschlag in’s Geome- trische keine fruchtbare Entwicklung des Pflanzlichen anknüpfen konnte. Der Dipylonstil musste aber nichts desto weniger an dieser Stelle zur Sprache gebracht werden, um die Unterbrechung der „myke- nischen“ Entwicklung und das Nachfolgende überhaupt zu erklären. Denn selbst auf solchen Punkten des späteren Hellas, wo sich myke- nische Ueberlieferungen ziemlich treu erhalten haben, hat sich der Ein- fluss des Dipylon in tiefgreifender Weise bemerkbar gemacht, so z. B. auf der Insel Melos, auf deren Vasen wir neben unverkennbar myke- nischen Ueberlieferungen die füllenden Streumuster des geometrischen Horror vacui, des primitiven Schmückungstriebes finden werden. Die bisherigen Funde haben ergeben, dass sich die Invasion des geometrischen Stils über alle Landschaften erstreckt hat, wo später Sitze griechischer Kultur und Kunst gewesen sind: am stärksten auf dem europäischen Festlande, in stetig abnehmender Intensität nach Osten hin bis gegen Cypern. Man hat daraus auch eine Antwort auf die ethnographische Frage konstruirt. Die Träger des Dipylon wären hiernach ein Volk gewesen, das nicht aus dem Orient, sondern über europäische Landschaften, also wohl über die Balkangegenden nach Griechenland eingewandert ist. Vielfach hat man hiebei an die Wan- derung der Dorer gedacht, was wiederum den folgerichtigen Schluss nach ziehen musste, dass die Träger der mykenischen Kunst in Grie- chenland die Achäer, also ebenfalls Griechen, gewesen sein müssten. Dies konnten diejenigen nicht zugeben, die in den Trägern der myke- nischen Kultur die Karer erblicken wollten. Diese letzteren stützten ihre Annahme hauptsächlich auf Gründe, die ausserhalb der Sphäre 60) So an einer Vase aus Kameiros, Arch. Jahrb. 1886, S. 135, welchen Umstand schon Furtwängler hervorgehoben hat.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/178>, abgerufen am 27.04.2024.