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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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5. Altböotisches. Frühattisches.
sich unter geringen Concessionen an die namentlich durch das attische
Geschirr und die attische Kunst überhaupt geschaffene und zur Mode
gewordene griechische Universalkunst bis gegen die alexandrinische
Zeit hin bewahrt haben mochten.

Da im Vorstehenden von dem Epheublatt die Rede war, halte ich
es für gerathen, um Missverständnisse zu vermeiden, nochmals (s. S. 125)
den Sinn dieser Bezeichnung zu erörtern. Ich denke dabei ebenso
wenig an ein wirkliches Epheublatt, wie bei der Bezeichnung Palmette
an eine Palme: es ist einfach ein Verständigungsmittel über eine gewisse
dekorative Kunstform, von welcher wir nicht wissen, was sich ihre je-
weiligen Darsteller darunter gedacht haben. Dies schliesst ja nicht aus,
dass man darin -- namentlich in der naturalisirenden nachalexandrinischen
Zeit -- in der That einen Epheu gesehen hat. Das Epheublatt begegnet
uns in Egypten, dann in Mykenä, es begegnet uns auf den sogenannten
chalkidischen Vasen und nun im Böotien des 4. Jahrhunderts. In letz-
teren beiden Fällen könnte man dem Motiv -- die topographische
Nachbarschaft als über alle Zweifel erwiesen vorausgesetzt -- die gleiche
Bedeutung beigelegt haben; wie aber in Mykenä oder gar in Egypten?
Deshalb kann ich mich auch nicht davon überzeugen lassen, dass die
Blätter von Fig. 7 bei Winnefeld auf die botanische Species Tamus
cretica zurückgehen, viel eher halte ich sie als eine rein stilistische
Fortbildung der "Epheublätter". Fig. 9 ebendaselbst zeigt allerdings
deutlich Weinblätter und Trauben: wir gelangen damit eben in die
naturalisirende Dekorationskunst, wie sie hauptsächlich die Diadochen-
zeit charakterisirt, aber schon seit dem peloponnesischen Kriege, seit
dem Aufkommen des Akanthus, sich in stets zunehmendem Maasse be-
merkbar gemacht hat. Gleichwohl ging auch dann noch daneben
immer eine stilisirende Richtung einher, die das Weinlaub z. B. fünf-
zackig bildete93) -- eine Richtung die in spätrömischer Zeit im Orient
wieder entschieden die Oberhand gewann, und sie daselbst wahrschein-
lich auch in der Zwischenzeit niemals völlig eingebüsst hatte.

Böhlau's frühattische Vasen im Arch. Jahrb. 1887 (S. 33 ff., Taf. 3--5)
stehen in Bezug auf die Entwicklung des Pflanzenornaments noch hinter
den melischen Vasen. Der Typus der Palmette ist hier noch keines-
wegs so abgeschlossen, wie wir ihn auf melischem Gebiete (S. 155) ge-
troffen haben. Die Vase auf Taf. 3 bei Böhlau zeigt an den Palmetten

93) Z. B. auf einem etruskischen Spiegel, Athen. Mitth. 1888, 365.
Riegl, Stilfragen. 12

5. Altböotisches. Frühattisches.
sich unter geringen Concessionen an die namentlich durch das attische
Geschirr und die attische Kunst überhaupt geschaffene und zur Mode
gewordene griechische Universalkunst bis gegen die alexandrinische
Zeit hin bewahrt haben mochten.

Da im Vorstehenden von dem Epheublatt die Rede war, halte ich
es für gerathen, um Missverständnisse zu vermeiden, nochmals (s. S. 125)
den Sinn dieser Bezeichnung zu erörtern. Ich denke dabei ebenso
wenig an ein wirkliches Epheublatt, wie bei der Bezeichnung Palmette
an eine Palme: es ist einfach ein Verständigungsmittel über eine gewisse
dekorative Kunstform, von welcher wir nicht wissen, was sich ihre je-
weiligen Darsteller darunter gedacht haben. Dies schliesst ja nicht aus,
dass man darin — namentlich in der naturalisirenden nachalexandrinischen
Zeit — in der That einen Epheu gesehen hat. Das Epheublatt begegnet
uns in Egypten, dann in Mykenä, es begegnet uns auf den sogenannten
chalkidischen Vasen und nun im Böotien des 4. Jahrhunderts. In letz-
teren beiden Fällen könnte man dem Motiv — die topographische
Nachbarschaft als über alle Zweifel erwiesen vorausgesetzt — die gleiche
Bedeutung beigelegt haben; wie aber in Mykenä oder gar in Egypten?
Deshalb kann ich mich auch nicht davon überzeugen lassen, dass die
Blätter von Fig. 7 bei Winnefeld auf die botanische Species Tamus
cretica zurückgehen, viel eher halte ich sie als eine rein stilistische
Fortbildung der „Epheublätter“. Fig. 9 ebendaselbst zeigt allerdings
deutlich Weinblätter und Trauben: wir gelangen damit eben in die
naturalisirende Dekorationskunst, wie sie hauptsächlich die Diadochen-
zeit charakterisirt, aber schon seit dem peloponnesischen Kriege, seit
dem Aufkommen des Akanthus, sich in stets zunehmendem Maasse be-
merkbar gemacht hat. Gleichwohl ging auch dann noch daneben
immer eine stilisirende Richtung einher, die das Weinlaub z. B. fünf-
zackig bildete93) — eine Richtung die in spätrömischer Zeit im Orient
wieder entschieden die Oberhand gewann, und sie daselbst wahrschein-
lich auch in der Zwischenzeit niemals völlig eingebüsst hatte.

Böhlau’s frühattische Vasen im Arch. Jahrb. 1887 (S. 33 ff., Taf. 3—5)
stehen in Bezug auf die Entwicklung des Pflanzenornaments noch hinter
den melischen Vasen. Der Typus der Palmette ist hier noch keines-
wegs so abgeschlossen, wie wir ihn auf melischem Gebiete (S. 155) ge-
troffen haben. Die Vase auf Taf. 3 bei Böhlau zeigt an den Palmetten

93) Z. B. auf einem etruskischen Spiegel, Athen. Mitth. 1888, 365.
Riegl, Stilfragen. 12
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[177/0203] 5. Altböotisches. Frühattisches. sich unter geringen Concessionen an die namentlich durch das attische Geschirr und die attische Kunst überhaupt geschaffene und zur Mode gewordene griechische Universalkunst bis gegen die alexandrinische Zeit hin bewahrt haben mochten. Da im Vorstehenden von dem Epheublatt die Rede war, halte ich es für gerathen, um Missverständnisse zu vermeiden, nochmals (s. S. 125) den Sinn dieser Bezeichnung zu erörtern. Ich denke dabei ebenso wenig an ein wirkliches Epheublatt, wie bei der Bezeichnung Palmette an eine Palme: es ist einfach ein Verständigungsmittel über eine gewisse dekorative Kunstform, von welcher wir nicht wissen, was sich ihre je- weiligen Darsteller darunter gedacht haben. Dies schliesst ja nicht aus, dass man darin — namentlich in der naturalisirenden nachalexandrinischen Zeit — in der That einen Epheu gesehen hat. Das Epheublatt begegnet uns in Egypten, dann in Mykenä, es begegnet uns auf den sogenannten chalkidischen Vasen und nun im Böotien des 4. Jahrhunderts. In letz- teren beiden Fällen könnte man dem Motiv — die topographische Nachbarschaft als über alle Zweifel erwiesen vorausgesetzt — die gleiche Bedeutung beigelegt haben; wie aber in Mykenä oder gar in Egypten? Deshalb kann ich mich auch nicht davon überzeugen lassen, dass die Blätter von Fig. 7 bei Winnefeld auf die botanische Species Tamus cretica zurückgehen, viel eher halte ich sie als eine rein stilistische Fortbildung der „Epheublätter“. Fig. 9 ebendaselbst zeigt allerdings deutlich Weinblätter und Trauben: wir gelangen damit eben in die naturalisirende Dekorationskunst, wie sie hauptsächlich die Diadochen- zeit charakterisirt, aber schon seit dem peloponnesischen Kriege, seit dem Aufkommen des Akanthus, sich in stets zunehmendem Maasse be- merkbar gemacht hat. Gleichwohl ging auch dann noch daneben immer eine stilisirende Richtung einher, die das Weinlaub z. B. fünf- zackig bildete 93) — eine Richtung die in spätrömischer Zeit im Orient wieder entschieden die Oberhand gewann, und sie daselbst wahrschein- lich auch in der Zwischenzeit niemals völlig eingebüsst hatte. Böhlau’s frühattische Vasen im Arch. Jahrb. 1887 (S. 33 ff., Taf. 3—5) stehen in Bezug auf die Entwicklung des Pflanzenornaments noch hinter den melischen Vasen. Der Typus der Palmette ist hier noch keines- wegs so abgeschlossen, wie wir ihn auf melischem Gebiete (S. 155) ge- troffen haben. Die Vase auf Taf. 3 bei Böhlau zeigt an den Palmetten 93) Z. B. auf einem etruskischen Spiegel, Athen. Mitth. 1888, 365. Riegl, Stilfragen. 12

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/203>, abgerufen am 26.04.2024.