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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.

Sofern dieses Ziel die Ausgestaltung der an den Rankenlinien
haftenden pflanzlichen Einzelmotive betraf, war dasselbe spätestens in
perikleischer Zeit thatsächlich erreicht. Der Akanthus bedeutet den
äussersten Punkt, bis zu welchem sich das Pflanzenornament der Natur
nähern durfte, ohne in kopistenhafte Abhängigkeit von dieser letzteren
zu gerathen.46) Die Veränderungen, Fort- und Umbildungen, die uns
an den Blüthenmotiven des hellenistischen und römischen Ranken-
ornaments entgegentreten, sind nicht als Krönungen des vorangegangenen
Werdeprocesses, sondern als Keime, Ansätze für darauf folgende funda-
mentale Neugestaltungen anzusehen. Was der hellenistischen Kunst
für die Vervollkommnung des Rankenornaments noch zu leisten übrig
blieb, das betraf nicht die Behandlung der Einzelmotive, sondern das
Maass, die Ausdehnung des Verwendungsgebietes, das man der Ranke
überhaupt einzuräumen hatte.

Die gleichsam physische Vorbedingung zu einer umfassenderen
Verwendung -- die freie künstlerische Handhabung des Rankenorna-
ments -- hatte eigentlich schon die schwarzfigurige Vasenmalerei er-
füllt. Es handelte sich im Grunde nur mehr darum, dem Ranken-
ornamente den erforderlichen Raum zur vollen Entfaltung
seiner Qualitäten zur Verfügung zu stellen
. Dies geschah in
der hellenistischen Zeit. Nicht als ob es dieser Zeit um blosse Befrie-
digung des Schmuckbedürfnisses, und nicht auch um die Lösung hoher
künstlerischer Probleme zu thun gewesen wäre. Diese Probleme lagen
aber überwiegend auf dem Gebiete der Architektur: den monarchisch-
orientalisirenden Gedanken der Bauherren der Diadochenzeit genügte
das einfach-edle Säulenhaus nicht mehr. Der Massenbau und die Wöl-
bung beschäftigten die Phantasie dieses Zeitalters, ganze Städte wurden
im Nu gegründet, und Prachtbauten gleich dem Sarapeion in Alexandrien
aufgeführt, in denen der Skulptur und Malerei die bloss dienende Rolle
des Schmuckbereitens zukam. Die Ziele der Skulptur und Malerei
mussten daher vorwiegend dekorative werden, und damit war für die
gefällige schmiegsame Ranke die richtige Zeit gekommen.

Von den Prachtbauten und Dekorationen der Diadochen hat sich

46) In pompejanischer Zeit hat man allerdings vereinzelt auch Blumen in fast
völlig natürlichem Habitus und zwar anscheinend nicht um einer gegenständ-
lichen Bedeutung willen, sondern zu rein dekorativen Zwecken an die Wände
gemalt; aber dies war augenscheinlich bloss eine vorübergehende Episode: die
natürlichen Blumenabbildungen verschwanden in der späteren Kaiserzeit
wieder aus der Dekoration; Palmetten und Akanthus dagegen sind geblieben.
B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.

Sofern dieses Ziel die Ausgestaltung der an den Rankenlinien
haftenden pflanzlichen Einzelmotive betraf, war dasselbe spätestens in
perikleischer Zeit thatsächlich erreicht. Der Akanthus bedeutet den
äussersten Punkt, bis zu welchem sich das Pflanzenornament der Natur
nähern durfte, ohne in kopistenhafte Abhängigkeit von dieser letzteren
zu gerathen.46) Die Veränderungen, Fort- und Umbildungen, die uns
an den Blüthenmotiven des hellenistischen und römischen Ranken-
ornaments entgegentreten, sind nicht als Krönungen des vorangegangenen
Werdeprocesses, sondern als Keime, Ansätze für darauf folgende funda-
mentale Neugestaltungen anzusehen. Was der hellenistischen Kunst
für die Vervollkommnung des Rankenornaments noch zu leisten übrig
blieb, das betraf nicht die Behandlung der Einzelmotive, sondern das
Maass, die Ausdehnung des Verwendungsgebietes, das man der Ranke
überhaupt einzuräumen hatte.

Die gleichsam physische Vorbedingung zu einer umfassenderen
Verwendung — die freie künstlerische Handhabung des Rankenorna-
ments — hatte eigentlich schon die schwarzfigurige Vasenmalerei er-
füllt. Es handelte sich im Grunde nur mehr darum, dem Ranken-
ornamente den erforderlichen Raum zur vollen Entfaltung
seiner Qualitäten zur Verfügung zu stellen
. Dies geschah in
der hellenistischen Zeit. Nicht als ob es dieser Zeit um blosse Befrie-
digung des Schmuckbedürfnisses, und nicht auch um die Lösung hoher
künstlerischer Probleme zu thun gewesen wäre. Diese Probleme lagen
aber überwiegend auf dem Gebiete der Architektur: den monarchisch-
orientalisirenden Gedanken der Bauherren der Diadochenzeit genügte
das einfach-edle Säulenhaus nicht mehr. Der Massenbau und die Wöl-
bung beschäftigten die Phantasie dieses Zeitalters, ganze Städte wurden
im Nu gegründet, und Prachtbauten gleich dem Sarapeion in Alexandrien
aufgeführt, in denen der Skulptur und Malerei die bloss dienende Rolle
des Schmuckbereitens zukam. Die Ziele der Skulptur und Malerei
mussten daher vorwiegend dekorative werden, und damit war für die
gefällige schmiegsame Ranke die richtige Zeit gekommen.

Von den Prachtbauten und Dekorationen der Diadochen hat sich

46) In pompejanischer Zeit hat man allerdings vereinzelt auch Blumen in fast
völlig natürlichem Habitus und zwar anscheinend nicht um einer gegenständ-
lichen Bedeutung willen, sondern zu rein dekorativen Zwecken an die Wände
gemalt; aber dies war augenscheinlich bloss eine vorübergehende Episode: die
natürlichen Blumenabbildungen verschwanden in der späteren Kaiserzeit
wieder aus der Dekoration; Palmetten und Akanthus dagegen sind geblieben.
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[224[234]/0260] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. Sofern dieses Ziel die Ausgestaltung der an den Rankenlinien haftenden pflanzlichen Einzelmotive betraf, war dasselbe spätestens in perikleischer Zeit thatsächlich erreicht. Der Akanthus bedeutet den äussersten Punkt, bis zu welchem sich das Pflanzenornament der Natur nähern durfte, ohne in kopistenhafte Abhängigkeit von dieser letzteren zu gerathen. 46) Die Veränderungen, Fort- und Umbildungen, die uns an den Blüthenmotiven des hellenistischen und römischen Ranken- ornaments entgegentreten, sind nicht als Krönungen des vorangegangenen Werdeprocesses, sondern als Keime, Ansätze für darauf folgende funda- mentale Neugestaltungen anzusehen. Was der hellenistischen Kunst für die Vervollkommnung des Rankenornaments noch zu leisten übrig blieb, das betraf nicht die Behandlung der Einzelmotive, sondern das Maass, die Ausdehnung des Verwendungsgebietes, das man der Ranke überhaupt einzuräumen hatte. Die gleichsam physische Vorbedingung zu einer umfassenderen Verwendung — die freie künstlerische Handhabung des Rankenorna- ments — hatte eigentlich schon die schwarzfigurige Vasenmalerei er- füllt. Es handelte sich im Grunde nur mehr darum, dem Ranken- ornamente den erforderlichen Raum zur vollen Entfaltung seiner Qualitäten zur Verfügung zu stellen. Dies geschah in der hellenistischen Zeit. Nicht als ob es dieser Zeit um blosse Befrie- digung des Schmuckbedürfnisses, und nicht auch um die Lösung hoher künstlerischer Probleme zu thun gewesen wäre. Diese Probleme lagen aber überwiegend auf dem Gebiete der Architektur: den monarchisch- orientalisirenden Gedanken der Bauherren der Diadochenzeit genügte das einfach-edle Säulenhaus nicht mehr. Der Massenbau und die Wöl- bung beschäftigten die Phantasie dieses Zeitalters, ganze Städte wurden im Nu gegründet, und Prachtbauten gleich dem Sarapeion in Alexandrien aufgeführt, in denen der Skulptur und Malerei die bloss dienende Rolle des Schmuckbereitens zukam. Die Ziele der Skulptur und Malerei mussten daher vorwiegend dekorative werden, und damit war für die gefällige schmiegsame Ranke die richtige Zeit gekommen. Von den Prachtbauten und Dekorationen der Diadochen hat sich 46) In pompejanischer Zeit hat man allerdings vereinzelt auch Blumen in fast völlig natürlichem Habitus und zwar anscheinend nicht um einer gegenständ- lichen Bedeutung willen, sondern zu rein dekorativen Zwecken an die Wände gemalt; aber dies war augenscheinlich bloss eine vorübergehende Episode: die natürlichen Blumenabbildungen verschwanden in der späteren Kaiserzeit wieder aus der Dekoration; Palmetten und Akanthus dagegen sind geblieben.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 224[234]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/260>, abgerufen am 28.04.2024.