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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
entfaltung mit eingestreuten Kinderfiguren -- auf hellenistische Ein-
gebungen zurückgeht. Tritt uns doch das System in der ersten römi-
schen Kaiserzeit (Pompeji, Farnesina) allzu vollendet und ausgeprägt
entgegen, als dass es zu dieser Zeit nicht schon seine Entstehungs-
stadien lange hinter sich gehabt haben müsste.

Mit Werken, wie der Hildesheimer Krater, war die Leistungsfähig-
keit der dekorativen Pflanzenranke aufs Höchste gesteigert, der Kreislauf
erschöpft. Auch unsere Eingangs gestellte Aufgabe, die Entwicklung des
Pflanzenrankenornaments von seinen frühesten Anfängen in der mykeni-
schen Kunst bis zur reifsten Ausbildung zu verfolgen, erscheint damit ge-
löst und wir könnten hiemit füglich dieses Kapitel abschliessen. Es wurde
aber schon angedeutet, dass in der Detailbehandlung der Ranke und
der Stilisirung ihrer anhaftenden Blüthen- und Blättermotive während
der hellenistischen und der römischen Kaiserzeit gewisse Veränderungen
und Fortbildungen sich vollzogen haben, die man nicht so sehr für
Vollendungen des Entwicklungsganges in vorperikleischer Zeit, als viel-
mehr für die Vorboten und Ausgangspunkte einer künftigen,
wesentlich verschiedenen Zielen zustrebenden Stilweise
an-
zusehen hat. Es wird sich daher empfehlen, der hellenistischen Ranken-
ornamentik nach der angedeuteten Richtung noch einige Betrachtungen
zu widmen, um für den Augenblick, da wir an die Erörterung des
byzantinischen und saracenischen Rankenornaments schreiten werden,
den Anknüpfungspunkt sichergestellt und bereit zu haben.

Im Verlaufe des Entwicklungsprocesses der griechischen Ranken-
ornamentik hatte unter allen hiebei in Betracht kommenden Einzel-
motiven die Palmette allmälich die grösste Wichtigkeit erlangt. Der
Palmettenfächer war es eben, der sich weitaus am besten dazu eignete,
genau nach Maassgabe des jeweiligen Bedürfnisses in die Zwickel der
Rankengabelungen eingesetzt zu werden. Traten zwei Rankenendigungen
in spiraligen Einrollungen zu einem Kelche zusammen, so erhob sich
darüber als Füllung der Fächer einer vollen Palmette. Handelte es
sich nur um die Abzweigung eines Schösslings vom Hauptstamme der
Ranke, so war mit diesem Schössling bloss eine spiralige Einrollung,
die Hälfte eines Kelches gegeben, über welchem dann als Füllung bloss
ein halber Palmettenfächer nothwendig war. Geschah endlich die
Rankengabelung unter sehr spitzem Winkel, so genügte ein kleiner
(1/4-- 1/3 ) Ausschnitt aus dem Fächer einer vollen Palmette.

Als im Laufe des 5. Jahrhunderts eine lebhaftere Bewegung, ein

10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
entfaltung mit eingestreuten Kinderfiguren — auf hellenistische Ein-
gebungen zurückgeht. Tritt uns doch das System in der ersten römi-
schen Kaiserzeit (Pompeji, Farnesina) allzu vollendet und ausgeprägt
entgegen, als dass es zu dieser Zeit nicht schon seine Entstehungs-
stadien lange hinter sich gehabt haben müsste.

Mit Werken, wie der Hildesheimer Krater, war die Leistungsfähig-
keit der dekorativen Pflanzenranke aufs Höchste gesteigert, der Kreislauf
erschöpft. Auch unsere Eingangs gestellte Aufgabe, die Entwicklung des
Pflanzenrankenornaments von seinen frühesten Anfängen in der mykeni-
schen Kunst bis zur reifsten Ausbildung zu verfolgen, erscheint damit ge-
löst und wir könnten hiemit füglich dieses Kapitel abschliessen. Es wurde
aber schon angedeutet, dass in der Detailbehandlung der Ranke und
der Stilisirung ihrer anhaftenden Blüthen- und Blättermotive während
der hellenistischen und der römischen Kaiserzeit gewisse Veränderungen
und Fortbildungen sich vollzogen haben, die man nicht so sehr für
Vollendungen des Entwicklungsganges in vorperikleischer Zeit, als viel-
mehr für die Vorboten und Ausgangspunkte einer künftigen,
wesentlich verschiedenen Zielen zustrebenden Stilweise
an-
zusehen hat. Es wird sich daher empfehlen, der hellenistischen Ranken-
ornamentik nach der angedeuteten Richtung noch einige Betrachtungen
zu widmen, um für den Augenblick, da wir an die Erörterung des
byzantinischen und saracenischen Rankenornaments schreiten werden,
den Anknüpfungspunkt sichergestellt und bereit zu haben.

Im Verlaufe des Entwicklungsprocesses der griechischen Ranken-
ornamentik hatte unter allen hiebei in Betracht kommenden Einzel-
motiven die Palmette allmälich die grösste Wichtigkeit erlangt. Der
Palmettenfächer war es eben, der sich weitaus am besten dazu eignete,
genau nach Maassgabe des jeweiligen Bedürfnisses in die Zwickel der
Rankengabelungen eingesetzt zu werden. Traten zwei Rankenendigungen
in spiraligen Einrollungen zu einem Kelche zusammen, so erhob sich
darüber als Füllung der Fächer einer vollen Palmette. Handelte es
sich nur um die Abzweigung eines Schösslings vom Hauptstamme der
Ranke, so war mit diesem Schössling bloss eine spiralige Einrollung,
die Hälfte eines Kelches gegeben, über welchem dann als Füllung bloss
ein halber Palmettenfächer nothwendig war. Geschah endlich die
Rankengabelung unter sehr spitzem Winkel, so genügte ein kleiner
(¼—⅓) Ausschnitt aus dem Fächer einer vollen Palmette.

Als im Laufe des 5. Jahrhunderts eine lebhaftere Bewegung, ein

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[239/0265] 10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament. entfaltung mit eingestreuten Kinderfiguren — auf hellenistische Ein- gebungen zurückgeht. Tritt uns doch das System in der ersten römi- schen Kaiserzeit (Pompeji, Farnesina) allzu vollendet und ausgeprägt entgegen, als dass es zu dieser Zeit nicht schon seine Entstehungs- stadien lange hinter sich gehabt haben müsste. Mit Werken, wie der Hildesheimer Krater, war die Leistungsfähig- keit der dekorativen Pflanzenranke aufs Höchste gesteigert, der Kreislauf erschöpft. Auch unsere Eingangs gestellte Aufgabe, die Entwicklung des Pflanzenrankenornaments von seinen frühesten Anfängen in der mykeni- schen Kunst bis zur reifsten Ausbildung zu verfolgen, erscheint damit ge- löst und wir könnten hiemit füglich dieses Kapitel abschliessen. Es wurde aber schon angedeutet, dass in der Detailbehandlung der Ranke und der Stilisirung ihrer anhaftenden Blüthen- und Blättermotive während der hellenistischen und der römischen Kaiserzeit gewisse Veränderungen und Fortbildungen sich vollzogen haben, die man nicht so sehr für Vollendungen des Entwicklungsganges in vorperikleischer Zeit, als viel- mehr für die Vorboten und Ausgangspunkte einer künftigen, wesentlich verschiedenen Zielen zustrebenden Stilweise an- zusehen hat. Es wird sich daher empfehlen, der hellenistischen Ranken- ornamentik nach der angedeuteten Richtung noch einige Betrachtungen zu widmen, um für den Augenblick, da wir an die Erörterung des byzantinischen und saracenischen Rankenornaments schreiten werden, den Anknüpfungspunkt sichergestellt und bereit zu haben. Im Verlaufe des Entwicklungsprocesses der griechischen Ranken- ornamentik hatte unter allen hiebei in Betracht kommenden Einzel- motiven die Palmette allmälich die grösste Wichtigkeit erlangt. Der Palmettenfächer war es eben, der sich weitaus am besten dazu eignete, genau nach Maassgabe des jeweiligen Bedürfnisses in die Zwickel der Rankengabelungen eingesetzt zu werden. Traten zwei Rankenendigungen in spiraligen Einrollungen zu einem Kelche zusammen, so erhob sich darüber als Füllung der Fächer einer vollen Palmette. Handelte es sich nur um die Abzweigung eines Schösslings vom Hauptstamme der Ranke, so war mit diesem Schössling bloss eine spiralige Einrollung, die Hälfte eines Kelches gegeben, über welchem dann als Füllung bloss ein halber Palmettenfächer nothwendig war. Geschah endlich die Rankengabelung unter sehr spitzem Winkel, so genügte ein kleiner (¼—⅓) Ausschnitt aus dem Fächer einer vollen Palmette. Als im Laufe des 5. Jahrhunderts eine lebhaftere Bewegung, ein

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/265>, abgerufen am 04.05.2024.