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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Zeit, die sie als Weise verehrte, in dem was man ihre Lehre
nennen kann. Noch lassen vereinzelte Spuren erkennen, dass
die Vorstellungen, die ihre Thätigkeit und ihr Leben bestimm-
ten, in den Köpfen dieser Visionäre, die doch mehr als nur
Praktiker eines zauberhaften Religionswesens waren, sich zu
einer Einheit zusammenzuschliessen strebten. Wie weit die
Phantasiebilder vom Werden der Welt und der Götter, die
Epimenides 1) und Pherekydes ausführten, mit dem Thun und
Wirken dieser Männer zusammenhängen mochten, wissen wir
nicht 2). Wenn aber von Hermotimos berichtet wird, dass er,
ähnlich wie später sein Landsmann Anaxagoras, eine Scheidung
zwischen dem reinen "Geiste" und dem Stofflichen angenommen
habe 3), so sieht man deutlich, wie diese Theorie aus seinen
"Erfahrungen" hervorging. Die Ekstasen der Seele, von denen
Hermotimos selbst und dies ganze Zeitalter der verzückten
Seher so vielfache Erfahrung machte, wiesen als auf eine stark
bezeugte Thatsache hin auf die Trennbarkeit der "Seele" vom
Leibe, auf höheres Dasein der Seele in ihrem Sonderdasein 4).

1) Die "Theogonie" die das Alterthum, ohne Aeusserung eines Zwei-
fels, unter dem Namen des Epimenides las und citirt, diesem abzusprechen
wäre man genöthigt, wenn wirklich in den Resten jener Theogonie sich
Anlehnung an Lehren des Anaximenes oder gar an die rhapsodische
Theogonie des Orpheus zeigte, wie Kern, de Orphei Ep. Pher. theog. 69 ff.
annimmt. Aber weder ist ein wirklicher Zusammenhang zwischen den
Meinungen des E. und jener Andern aus einigen ganz vagen Anklängen
des Einen an die Andern zu erschliessen, noch müsste, selbst wenn ein
Zusammenhang bestünde, Epimenides der Entlehnende sein. Jedenfalls
genügen solche angebliche Entlehnungen nicht, um uns zu nöthigen, die
Lebenszeit des Epimenides aus dem Ende des 7. Jahrhunderts an das
Ende des 6. Jahrhunderts herabzudrücken. Bestünden sie in Wirklichkeit,
so müsste vielmehr die Theogonie dem Ep. von einem Fälscher späterer
Zeit untergeschoben worden sein.
2) Die Vorstellung einer auch theoretischen Thätigkeit verbindet sich
für Spätere offenbar mit dem Namen dieser Männer, wenn ihnen Epi-
menides (z. B. Diodor. 5, 80, 4), oder Abaris (Apollon. mirab. 4) ein theo-
logos heisst, Aristeas ein aner philosophos (Max. Tyr. diss. 38 p. 222 R).
3) Aristot. Metaph. 1, 3 p. 984 b, 19 f.
4) In diesen tief erregten Zeiten müssen die Griechen vielfach die
Erfahrung von jenen abnormen aber keineswegs seltenen Erscheinungen

Zeit, die sie als Weise verehrte, in dem was man ihre Lehre
nennen kann. Noch lassen vereinzelte Spuren erkennen, dass
die Vorstellungen, die ihre Thätigkeit und ihr Leben bestimm-
ten, in den Köpfen dieser Visionäre, die doch mehr als nur
Praktiker eines zauberhaften Religionswesens waren, sich zu
einer Einheit zusammenzuschliessen strebten. Wie weit die
Phantasiebilder vom Werden der Welt und der Götter, die
Epimenides 1) und Pherekydes ausführten, mit dem Thun und
Wirken dieser Männer zusammenhängen mochten, wissen wir
nicht 2). Wenn aber von Hermotimos berichtet wird, dass er,
ähnlich wie später sein Landsmann Anaxagoras, eine Scheidung
zwischen dem reinen „Geiste“ und dem Stofflichen angenommen
habe 3), so sieht man deutlich, wie diese Theorie aus seinen
„Erfahrungen“ hervorging. Die Ekstasen der Seele, von denen
Hermotimos selbst und dies ganze Zeitalter der verzückten
Seher so vielfache Erfahrung machte, wiesen als auf eine stark
bezeugte Thatsache hin auf die Trennbarkeit der „Seele“ vom
Leibe, auf höheres Dasein der Seele in ihrem Sonderdasein 4).

1) Die „Theogonie“ die das Alterthum, ohne Aeusserung eines Zwei-
fels, unter dem Namen des Epimenides las und citirt, diesem abzusprechen
wäre man genöthigt, wenn wirklich in den Resten jener Theogonie sich
Anlehnung an Lehren des Anaximenes oder gar an die rhapsodische
Theogonie des Orpheus zeigte, wie Kern, de Orphei Ep. Pher. theog. 69 ff.
annimmt. Aber weder ist ein wirklicher Zusammenhang zwischen den
Meinungen des E. und jener Andern aus einigen ganz vagen Anklängen
des Einen an die Andern zu erschliessen, noch müsste, selbst wenn ein
Zusammenhang bestünde, Epimenides der Entlehnende sein. Jedenfalls
genügen solche angebliche Entlehnungen nicht, um uns zu nöthigen, die
Lebenszeit des Epimenides aus dem Ende des 7. Jahrhunderts an das
Ende des 6. Jahrhunderts herabzudrücken. Bestünden sie in Wirklichkeit,
so müsste vielmehr die Theogonie dem Ep. von einem Fälscher späterer
Zeit untergeschoben worden sein.
2) Die Vorstellung einer auch theoretischen Thätigkeit verbindet sich
für Spätere offenbar mit dem Namen dieser Männer, wenn ihnen Epi-
menides (z. B. Diodor. 5, 80, 4), oder Abaris (Apollon. mirab. 4) ein ϑεο-
λόγος heisst, Aristeas ein ἀνὴρ φιλόσοφος (Max. Tyr. diss. 38 p. 222 R).
3) Aristot. Metaph. 1, 3 p. 984 b, 19 f.
4) In diesen tief erregten Zeiten müssen die Griechen vielfach die
Erfahrung von jenen abnormen aber keineswegs seltenen Erscheinungen
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[391/0407] Zeit, die sie als Weise verehrte, in dem was man ihre Lehre nennen kann. Noch lassen vereinzelte Spuren erkennen, dass die Vorstellungen, die ihre Thätigkeit und ihr Leben bestimm- ten, in den Köpfen dieser Visionäre, die doch mehr als nur Praktiker eines zauberhaften Religionswesens waren, sich zu einer Einheit zusammenzuschliessen strebten. Wie weit die Phantasiebilder vom Werden der Welt und der Götter, die Epimenides 1) und Pherekydes ausführten, mit dem Thun und Wirken dieser Männer zusammenhängen mochten, wissen wir nicht 2). Wenn aber von Hermotimos berichtet wird, dass er, ähnlich wie später sein Landsmann Anaxagoras, eine Scheidung zwischen dem reinen „Geiste“ und dem Stofflichen angenommen habe 3), so sieht man deutlich, wie diese Theorie aus seinen „Erfahrungen“ hervorging. Die Ekstasen der Seele, von denen Hermotimos selbst und dies ganze Zeitalter der verzückten Seher so vielfache Erfahrung machte, wiesen als auf eine stark bezeugte Thatsache hin auf die Trennbarkeit der „Seele“ vom Leibe, auf höheres Dasein der Seele in ihrem Sonderdasein 4). 1) Die „Theogonie“ die das Alterthum, ohne Aeusserung eines Zwei- fels, unter dem Namen des Epimenides las und citirt, diesem abzusprechen wäre man genöthigt, wenn wirklich in den Resten jener Theogonie sich Anlehnung an Lehren des Anaximenes oder gar an die rhapsodische Theogonie des Orpheus zeigte, wie Kern, de Orphei Ep. Pher. theog. 69 ff. annimmt. Aber weder ist ein wirklicher Zusammenhang zwischen den Meinungen des E. und jener Andern aus einigen ganz vagen Anklängen des Einen an die Andern zu erschliessen, noch müsste, selbst wenn ein Zusammenhang bestünde, Epimenides der Entlehnende sein. Jedenfalls genügen solche angebliche Entlehnungen nicht, um uns zu nöthigen, die Lebenszeit des Epimenides aus dem Ende des 7. Jahrhunderts an das Ende des 6. Jahrhunderts herabzudrücken. Bestünden sie in Wirklichkeit, so müsste vielmehr die Theogonie dem Ep. von einem Fälscher späterer Zeit untergeschoben worden sein. 2) Die Vorstellung einer auch theoretischen Thätigkeit verbindet sich für Spätere offenbar mit dem Namen dieser Männer, wenn ihnen Epi- menides (z. B. Diodor. 5, 80, 4), oder Abaris (Apollon. mirab. 4) ein ϑεο- λόγος heisst, Aristeas ein ἀνὴρ φιλόσοφος (Max. Tyr. diss. 38 p. 222 R). 3) Aristot. Metaph. 1, 3 p. 984 b, 19 f. 4) In diesen tief erregten Zeiten müssen die Griechen vielfach die Erfahrung von jenen abnormen aber keineswegs seltenen Erscheinungen

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/407>, abgerufen am 29.04.2024.