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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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"ferne von den Menschen" (v. 167), sondern auch (v. 169)
fern von den Unsterblichen, und Kronos herrscht über sie. Der
Dichter dieses Verses folgt einer schönen, aber erst nach
Hesiod ausgebildeten Sage, nach der Zeus den greisen Kronos
mit den anderen Titanen aus dem Tartaros frei gab 1), und
der alte Götterkönig, unter dessen Herrschaft einst das goldene
Zeitalter des Friedens und Glückes auf Erden bestanden hatte,
nun über die Seligen im Elysium wie in einem zweiten, ewigen
goldenen Zeitalter waltet, er selbst ein Bild der sorgenfreien
Beschaulichkeit, fern von der lärmenden Welt, deren Herr-
schaft ihm Zeus entrissen hat. Hesiod selbst hat zu dieser
Herüberziehung des Kronos aus dem goldenen Zeitalter in das
Land der Entrückten einen Anlass gegeben, indem er in den
wenigen Zeilen, in denen er das Leben der Seligen berührt,
deutlich einen Anklang an die Schilderung des mühelosen Da-
seins im goldenen Zeitalter vernehmen lässt. Beide Vorstel-
lungen, jene ein verlorenes Kindheitsparadies in der Vergangen-
heit, diese den Auserwählten ein vollkommenes Glück in der
Zukunft zeigend, sind einander nahe verwandt: es ist schwer
zu sagen, welche von ihnen die andere beeinflusst haben mag 2),

1) luse de Zeus aphthitos Titanas Pindar (P. 4, 291), zu dessen Zeit
aber dies schon eine verbreitete Sagenwendung ist, auf die er nur, exem-
plificirend, anspielt. Die hesiodische Theogonie weiss noch nichts davon.
2) So gut die Sage vom goldenen, saturnischen Zeitalter wie eine
ausgeführtere Phantasie des Lebens auf seligen Inseln begegnen uns
nicht vor Hesiod, aber die epische Dichtung hatte, wie wir gesehen
haben, ihm einzelne Beispiele der Entrückung an einen Ort der Selig-
keit bereits dargeboten, er vereinigt diese nur zu einer Gesammtvor-
stellung eines solchen Ortes. Insofern tritt uns der Glaube an ein seliges
Leben im Jenseits früher entgegen als die Sagen vom goldenen Zeit-
alter. Aber wie wir nicht den entferntesten Grund haben, anzunehmen,
dass jener Glaube bei den Griechen "von vorn herein existirt" habe (so
meint allerdings Milchhöfer, Anf. d. Kunst p. 230), so kann es anderer-
seits Zufall sein, dass vom goldenen Zeitalter kein älterer Zeuge als
Hesiod berichtet, die Sage selbst kann viel älter sein. Nach Hesiod ist
sie oft ausgeschmückt worden, übrigens nicht zuerst von Empedokles,
wie Graf, ad aureae aetatis fab. symb. (Leipz. Stud. VIII) p. 15 meint,
sondern bereits in der epischen Alkmeonis: s. Philodem. p. euseb. p. 51 Gomp.
7*

„ferne von den Menschen“ (v. 167), sondern auch (v. 169)
fern von den Unsterblichen, und Kronos herrscht über sie. Der
Dichter dieses Verses folgt einer schönen, aber erst nach
Hesiod ausgebildeten Sage, nach der Zeus den greisen Kronos
mit den anderen Titanen aus dem Tartaros frei gab 1), und
der alte Götterkönig, unter dessen Herrschaft einst das goldene
Zeitalter des Friedens und Glückes auf Erden bestanden hatte,
nun über die Seligen im Elysium wie in einem zweiten, ewigen
goldenen Zeitalter waltet, er selbst ein Bild der sorgenfreien
Beschaulichkeit, fern von der lärmenden Welt, deren Herr-
schaft ihm Zeus entrissen hat. Hesiod selbst hat zu dieser
Herüberziehung des Kronos aus dem goldenen Zeitalter in das
Land der Entrückten einen Anlass gegeben, indem er in den
wenigen Zeilen, in denen er das Leben der Seligen berührt,
deutlich einen Anklang an die Schilderung des mühelosen Da-
seins im goldenen Zeitalter vernehmen lässt. Beide Vorstel-
lungen, jene ein verlorenes Kindheitsparadies in der Vergangen-
heit, diese den Auserwählten ein vollkommenes Glück in der
Zukunft zeigend, sind einander nahe verwandt: es ist schwer
zu sagen, welche von ihnen die andere beeinflusst haben mag 2),

1) λῦσε δὲ Ζεὺς ἄφϑιτος Τιτᾶνας Pindar (P. 4, 291), zu dessen Zeit
aber dies schon eine verbreitete Sagenwendung ist, auf die er nur, exem-
plificirend, anspielt. Die hesiodische Theogonie weiss noch nichts davon.
2) So gut die Sage vom goldenen, saturnischen Zeitalter wie eine
ausgeführtere Phantasie des Lebens auf seligen Inseln begegnen uns
nicht vor Hesiod, aber die epische Dichtung hatte, wie wir gesehen
haben, ihm einzelne Beispiele der Entrückung an einen Ort der Selig-
keit bereits dargeboten, er vereinigt diese nur zu einer Gesammtvor-
stellung eines solchen Ortes. Insofern tritt uns der Glaube an ein seliges
Leben im Jenseits früher entgegen als die Sagen vom goldenen Zeit-
alter. Aber wie wir nicht den entferntesten Grund haben, anzunehmen,
dass jener Glaube bei den Griechen „von vorn herein existirt“ habe (so
meint allerdings Milchhöfer, Anf. d. Kunst p. 230), so kann es anderer-
seits Zufall sein, dass vom goldenen Zeitalter kein älterer Zeuge als
Hesiod berichtet, die Sage selbst kann viel älter sein. Nach Hesiod ist
sie oft ausgeschmückt worden, übrigens nicht zuerst von Empedokles,
wie Graf, ad aureae aetatis fab. symb. (Leipz. Stud. VIII) p. 15 meint,
sondern bereits in der epischen Ἀλκμεωνίς: s. Philodem. π. εὐσεβ. p. 51 Gomp.
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[99/0115] „ferne von den Menschen“ (v. 167), sondern auch (v. 169) fern von den Unsterblichen, und Kronos herrscht über sie. Der Dichter dieses Verses folgt einer schönen, aber erst nach Hesiod ausgebildeten Sage, nach der Zeus den greisen Kronos mit den anderen Titanen aus dem Tartaros frei gab 1), und der alte Götterkönig, unter dessen Herrschaft einst das goldene Zeitalter des Friedens und Glückes auf Erden bestanden hatte, nun über die Seligen im Elysium wie in einem zweiten, ewigen goldenen Zeitalter waltet, er selbst ein Bild der sorgenfreien Beschaulichkeit, fern von der lärmenden Welt, deren Herr- schaft ihm Zeus entrissen hat. Hesiod selbst hat zu dieser Herüberziehung des Kronos aus dem goldenen Zeitalter in das Land der Entrückten einen Anlass gegeben, indem er in den wenigen Zeilen, in denen er das Leben der Seligen berührt, deutlich einen Anklang an die Schilderung des mühelosen Da- seins im goldenen Zeitalter vernehmen lässt. Beide Vorstel- lungen, jene ein verlorenes Kindheitsparadies in der Vergangen- heit, diese den Auserwählten ein vollkommenes Glück in der Zukunft zeigend, sind einander nahe verwandt: es ist schwer zu sagen, welche von ihnen die andere beeinflusst haben mag 2), 1) λῦσε δὲ Ζεὺς ἄφϑιτος Τιτᾶνας Pindar (P. 4, 291), zu dessen Zeit aber dies schon eine verbreitete Sagenwendung ist, auf die er nur, exem- plificirend, anspielt. Die hesiodische Theogonie weiss noch nichts davon. 2) So gut die Sage vom goldenen, saturnischen Zeitalter wie eine ausgeführtere Phantasie des Lebens auf seligen Inseln begegnen uns nicht vor Hesiod, aber die epische Dichtung hatte, wie wir gesehen haben, ihm einzelne Beispiele der Entrückung an einen Ort der Selig- keit bereits dargeboten, er vereinigt diese nur zu einer Gesammtvor- stellung eines solchen Ortes. Insofern tritt uns der Glaube an ein seliges Leben im Jenseits früher entgegen als die Sagen vom goldenen Zeit- alter. Aber wie wir nicht den entferntesten Grund haben, anzunehmen, dass jener Glaube bei den Griechen „von vorn herein existirt“ habe (so meint allerdings Milchhöfer, Anf. d. Kunst p. 230), so kann es anderer- seits Zufall sein, dass vom goldenen Zeitalter kein älterer Zeuge als Hesiod berichtet, die Sage selbst kann viel älter sein. Nach Hesiod ist sie oft ausgeschmückt worden, übrigens nicht zuerst von Empedokles, wie Graf, ad aureae aetatis fab. symb. (Leipz. Stud. VIII) p. 15 meint, sondern bereits in der epischen Ἀλκμεωνίς: s. Philodem. π. εὐσεβ. p. 51 Gomp. 7*

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/115>, abgerufen am 29.04.2024.